Das Beste hoffen, aber nicht damit rechnen - so lässt sich derzeit der Stand der Dinge in Bezug auf die neue Corona-Variante namens Omikron zusammenfassen. Das Beste hoffen, heißt in dem Fall: Die Variante, die zuerst in Südafrika nachgewiesen wurde, könnte laut ersten Erfahrungen mildere Krankheitsverläufe mit sich bringen. Noch dazu ist sie ansteckender als die aktuell vorherrschende, gefährlichere Delta-Variante und könnte diese sogar verdrängen. Ist eine Herdenimmunität also auch ohne den hohen Preis von Menschenleben möglich? Eine solche Variante, im Fachjargon Sweetspot-Mutation genannt, wäre ein Geschenk der Natur. Wie eingangs bereits erwähnt: Rechnen sollten wir damit nicht, denn die Daten, die derzeit existieren, sind noch sehr vage. Vor allem das in Sozialen Medien angepriesene "Nature's Vaccine", also eine Art Impfung der Natur, kann eine gefährliche Schlussfolgerung sein. Was wir bis jetzt wissen:
Vom Immunsystem schlechter erkannt
"Auf der einen Seite sehen wir, mit Daten aus Südafrika und dem Karolinska-Institut in Schweden, dass die Omikron-Variante Flucht-Mutationen hat. Das heißt, sie kann vom Immunsystem auch bei Geimpften oder Genesenen schlechter erkannt werden", erklärt Hendrik Streeck vom Institut für Virologie am Universitätsklinikum Bonn im Interview mit n-tv. Trotz allem sehe man, dass das Virus auch bei Geimpften weiterhin erkannt wird und vor allem Menschen mit Auffrischungsimpfung gut dagegen gewappnet sind. Zusätzlich kämen hoffnungsvolle Daten aus den USA, "dass das Virus in seinem Schweregrad heruntergesetzt sein kann." Das müsse man jedoch mit Vorsicht genießen, denn dafür brauche es noch die Erfahrung aus dem echten Leben, die sogenannten epidemiologischen Daten. "Aber wenn sich das so entwickelt, handelt es sich in der Tat um eine Sweetspot-Mutation, wo man mehr Infektionen hat, aber dafür auch leichtere."
Erste Daten aus Südafrika
Die bisherigen Daten aus Südafrika zeigen: Trotz sprunghaft gestiegener Zahlen scheint bisher in der am meisten betroffenen Provinz Gauteng eine Überlastung der Kliniken ausgeblieben zu sein. Im Gegenteil, laut einer Mitteilung des "South African Medical Research Council" von Anfang Dezember berichten Ärzte über einen eher milden Verlauf der Erkrankung. Und die meisten Patienten auf den Stationen benötigen keinen Sauerstoff. Auch die durchschnittliche Kranken¬hausliegezeit ist laut dem Bericht mit 2,8 Tagen versus 8,5 Tagen deutlich gesunken. Allerdings wird betont, dass es für eine statistisch greifbare Auswertung noch viel zu früh sei. Vor allem die Tatsache, dass das Virus ansteckender ist, bereitet Medizinern und Virologen Sorgen. Denn auch wenn der Verlauf milder sein sollte, gibt es immer noch Fälle, die auf den Normal- und Intensivstationen behandelt werden müssen. Bei der rasanten Ausbreitung und den zu erwartenden Impfdurchbrüchen könnte eine immense Anzahl an Infizierten natürlich auch eine entsprechend hohe Zahl an Krankenhaus-Patienten mit sich bringen, die das Gesundheitssystem erneut an die Grenzen des Möglichen bringen.
Die Gefahr: "Omikron tötet exponentiell"
Das dies der Fall sein könnte, zeigt auch eine Grafik der kanadischen Biologin Malgorzata Gasperowicz. Sie ermittelte die Rate der Todesfälle anhand des Verlaufes vier verschiedener Varianten. Der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach twitterte dazu: "Hier sieht man noch einmal in Modellrechnung, weshalb Corona-Varianten, die viel ansteckender sind, deutlich mehr Menschen töten als tödlichere, die sich nicht schnell ausbreiten. Schwerer Verlauf tötet linear, hohe Ansteckung tötet exponentiell. Da liegt die Gefahr durch Omikron." Der Epidemiologe Sebastian Funk von der London School of Hygiene and Tropical Medicine rechnet bei Zeit Online vor: "Wenn Omikron beispielsweise nur ein Viertel so häufig schwer krank machen würde wie Delta, wäre dieser Effekt bereits nach zwei Verdopplungen der Fallzahlen zunichte gemacht - aktuell also nach etwa acht Tagen. Weitere vier Tage produzierten doppelt so viele Schwerkranke - obwohl das Virus eigentlich harmloser ist." Das würde dafür sprechen, die geltenden Kontaktbeschränkungen aufrecht zu erhalten.
Ärztin überrascht von Reaktionen in Europa
Angelique Coetzee ist die südafrikanische Ärztin, die zum ersten Mal über die neue Omikron-Variante des Coronavirus berichtete und erste Infizierte behandelte. Die Medizinerin meldet sich in einem Gastbeitrag für die britische Zeitung "Daily Mail" zu Wort und zeigt sich überrascht über die heftigen Reaktionen in Europa. Während hier Alarmstimmung herrsche, gebe es in Südafrika noch keine Überlegungen, neue Restriktionen oder Lockdowns zu verhängen. Man habe sich an neue Varianten des Coronavirus gewöhnt, berichtet die Ärztin. "Als unsere Wissenschaftler die Entdeckung einer weiteren bestätigten, machte niemand etwas Großes daraus. Viele Leute haben es nicht einmal bemerkt." Auch die tödliche Gefahr durch Omikron sei nicht so hoch, wie es manche Reaktion vermuten lassen, sagt Coetzee. "Wenn Omikron wirklich eine so tödliche Variante wäre, würden wir erwarten, dass die Zahlen in die Höhe geschossen sind, aber das passiert hier einfach nicht." Die Ärztin warnt: Durch die Hysterie drohe man sogar eine Chance im Kampf gegen das Coronavirus und seine Varianten zu verpassen. "Wenn wir überreagieren, laufen wir Gefahr, die Vorteile einer Variante zu verpassen, die eher ein Freund als ein Feind sein könnte. Ein harter Lockdown würde den Prozess von Omikron, wie es sich durch die Bevölkerung bewegt, verlangsamen. Der ermöglicht es aber, lebenswichtige Antikörper zu entwickeln, die die Bevölkerung in Richtung 'Herdenimmunität' bewegen." Das könnte von Vorteil sein, wenn die nächste Variante auftaucht, die schwerwiegender als Omikron ist.
Vorsicht nach wie vor geboten
Fest steht: Bisher liegt Vieles noch im spekulativen Bereich. Umso wichtiger ist es deshalb, sich aktuell an Maßnahmen zu halten und auch in den kommenden Wintermonaten vorsichtig zu sein. Andernfalls könnte sich Omikron gerade auch im Weihnachtsbetrieb rasend schnell ausbreiten und auf eine weitere Überlastung der Intensivstationen hinauslaufen. Dabei gibt es noch eine große Unbekannte: Aktuell wird aus Südafrika ein höherer Anteil an jungen Kindern mit positiven Sars-CoV-2-Test gemeldet als in den vorherigen Wellen. Vor allem bei Kindern der Altersgruppe bis fünf Jahre sei eine Zunahme bei Krankenhauseinlieferungen zu beobachten. Ob diese Fälle tatsächlich auch auf Omikron zurückzuführen sind, ist noch nicht geklärt. Es sei nicht ausgeschlossen, dass es noch drastischere Gegenmaßnahmen braucht, fasst Epidemiologe Sebastian Funk die Lage zusammen. "Nicht alle, aber die meisten Modellverläufe führen zu Szenarien, die deutliche Kontaktbeschränkungen notwendig machen."