"Personal gesucht!": Wie schlimm ist der Fachkräftemangel in Sachsen?

Selinas Einblick Verschiedene Branchen sind besonders schwer betroffen

Selinas Einblick

Es ist Montagmorgen, ich stehe vor dem Bäcker meines Vertrauens in Bernsdorf vor verschlossenen Türen. Na nu, denke ich, vielleicht haben sie Urlaub oder ist heute vielleicht Feiertag? Nein, nichts dergleichen. Wie sich später herausstellt, hat die Bäckerei nicht genügend Mitarbeiter, um am Montag frische Brötchen zu verkaufen, deshalb bleibt die Filiale geschlossen. Was sich für den ersten Moment wie ein Scherz anhört, ist in Deutschland mittlerweile bittere Realität geworden. Denn der Bäcker ist nicht das einzige Geschäft mit unbesetzten Arbeitsstellen. Bundesweit kämpfen verschiedene Branchen immer verzweifelter gegen den akuten Fachkräftemangel.

Personalmangel in Zahlen

Die Bundesagentur für Arbeit meldete im Februar diesen Jahres 778.000 offene Stellen. Das sei ein kleiner Rückgang im Vergleich zum vorherigen Jahr, trotzdem ist es ein beängstigendes Ergebnis. Allein in Sachsen sind derzeit 44.000 Stellen unbesetzt. Aktuellen Berechnungen zufolge sinkt die Anzahl an Erwerbstätigen (erwerbsfähiges Alter: 20 bis 65 Jahre) 2030 noch zusätzlich um 3,9 Millionen Menschen. Insgesamt seien 352 von 801 Branchen betroffen, darunter befinden sich Berufe im Handwerk, in der Metall- und Elektroindustrie sowie im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik). Im Gesundheitswesen sind vor allem die Alten- und Krankenpflege betroffen, weshalb wir uns mit der Zeisigwaldklinik Bethanien in Verbindung gesetzt und mal genauer nachgefragt haben. Doch zuvor sind wir den Gründen und Ursachen des Personalmangels auf den Grund gegangen.

Ursachen und Gründe

Eine Ursache für den branchenspezifischen Rückgang an Arbeitskräften ist die Corona-Pandemie. Viele Unternehmen mussten zwangsläufig Angestellte gehen lassen oder das Arbeitsverhältnis kündigen. Unter den Beschränkungen haben besonders die Gastronomie und Hotellerie gelitten und auch heute ist der starke Verlust an Mitarbeitern noch spürbar. An jedem zweiten Café hängt ein Schild im Schaufenster, dass dringend Personal gesucht wird. Eine weitere corona-bedingte Abwanderung lässt sich im Dienstleistungssektor ausmachen. Handwerker, Friseure und auch Security-Mitarbeiter sind beispielsweise Mangelware geworden. Viele haben sich während der Pandemie einen neuen Job gesucht, um Geld zu verdienen und die Familie zu ernähren. Die Rückkehr in ihren alten Beruf wird dabei oftmals ausgeschlossen.

Work-Life-Balance

Seit einigen Jahren zeichnet sich auch der Trend der Work-Life-Balance ab, der eine ganz neue Einstellung zur Arbeit verbreitet. Nicht nur junge Generationen legen Wert auf ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen ihrem Beruf und ihrem Privatleben, auch Ältere gehen früher in Rente und nehmen dabei sogar Abzüge in Kauf. Wie es erst vor kurzem in allen Medien zu lesen gewesen ist, setzt sich Jens Spahn für die Abschaffung der Rente mit 63 ein. Er betont dabei, dass durch den verfrühten Ruhestand die jüngeren Generationen einer stärkeren Belastung standhalten müssen und die falschen Anreize gesetzt werden. Ob es den Unternehmen am Ende wirklich hilft, 67-jährige Arbeiter zu beschäftigen, sei dahingestellt.

Hinzukommt der globale Wettbewerb. Durch die Möglichkeit des Homeoffice wird die Entscheidung gefördert, für internationale, global agierende Unternehmen zu arbeiten, ohne in entsprechende Länder umziehen zu müssen.

Deutschland ist zu alt

Ein weiterer zentraler Faktor ist auch der demografische Wandel und die alternde Gesellschaft in Deutschland. Die nachwuchsstarken Jahrgänge, sogenannte Babyboomer-Generationen, gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Das Problem daran:  Es gibt zu wenig junge Menschen. Vor allem Sachsen sieht sich mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Im Vergleich zu den anderen Bundesländern haben wir hier die republikälteste Bevölkerung. Das bedeutet zwar eine Menge Arbeit, aber keine Fachkräfte, die die Stellen besetzen können. Dazu kommt, dass viele junge Menschen gewillt sind, ihr Abitur zu machen und sich danach um einen Studienplatz bemühen. Ausbildungsplätze wirken im Vergleich dazu eher unattraktiv. Doch woran liegt das und was kann man dagegen tun?

Ungenutztes Potenzial

Um Engpassberufe besser auszugleichen, sieht der Staat vor allem bei Frauen viel ungenutztes Potenzial. Denn ein Großteil der nur Teilzeitbeschäftigen würde gern mehr Stunden in der Woche arbeiten, das Hindernis ist dabei oftmals die Versorgung und Betreuung von Kindern und anderen Familienangehörigen. Es wäre deshalb wichtig, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu unterstützen und zu fördern.  Eine weitere Möglichkeit wäre die Inklusion von Menschen mit Behinderungen, denn auch hier gibt es viele, die sich gern mehr in das Alltagsleben integrieren und einer Tätigkeit nachgehen möchten.

Migration

Seit 2016 gibt es auch für Menschen mit Migrationshintergrund die Chance, in ihrer Ausbildung unterstützt zu werden, um freie Stellen in Unternehmen zu besetzen. Im März 2020 wurde dazu sogar das Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschiedet, welches die Einwanderung von Fachpersonal außerhalb der Europäischen Union erlaubt. Neureglungen sollen sich profitabel auf Menschen auswirken, die zwar keine Fachkräfte sind, aber jahrelange Berufserfahrung mit sich bringen.  Im Zusammenhang mit der Gewinnung von ausländischen Fachkräften wurde auch das mehrsprachige Portal "Make it in Germany" eingerichtet, das potenziellen, internationalen Angestellten helfen soll, sich über das Leben und die beruflichen Chancen in Deutschland zu informieren.

Politische Maßnahme in der Pflege

Das Gesundheitswesen ist eine Branche, die besonders schwer vom Fachkräftemangel betroffen ist, dabei wird nicht nur über fehlendes Personal geklagt, sondern auch über die körperliche wie seelische Überbelastung der derzeitigen Pflegekräfte. Momentan liegt der Versorgungsengpass bei sieben Prozent. Hochrechnungen gehen davon aus, dass 2035 bereits 1,8 Millionen Arbeitsstellen offen sind. Im Interview mit der Pflegedirektorin Frau Anke Jentzsch aus den Zeisigwaldkliniken Bethanien wurde unter anderem die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (kurz: PpUGV) angesprochen. Die Anfang Oktober 2018 eingerichtete Verordnung beschreibt, wie viele Pflegekräfte pro Schicht in einem Fachbereich arbeiten müssen. Das heißt, es wird eine maximale Anzahl an Patienten für einen Pfleger vorgegeben, um die Qualität der Arbeit zu verbessern. Man unterscheidet dabei in Tag- und Nacht- sowie in Wochenend- und Feiertagsschichten.  Viele Einrichtungen sehen einen Nachteil darin, dass es bei Verstoß gegen die Auflagen der PpUGV zu Sanktionen kommt, weshalb Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen zu unzureichend geschultem Personal greifen, um den Standards zu entsprechen. Die Anpassung der Verordnung wird für das Frühjahr 2024 erwartet.

Wirkung?

So richtig zu funktionieren, scheinen die unterschiedlichen Ansätze jedoch nicht. Weder die ausländischen Fachkräfte konnten sich bewähren, noch wurden Ausbildungsplätze attraktiver gemacht, um junge Menschen die Entscheidung zu erleichtern. Ein ähnliches Problem sieht auch Frau Jentzsch. Ihrer Ansicht nach liegen die sinkenden Bewerbungszahlen für einen Pflegeberuf an dem miserablen Medienauftritt. Ständig hört man nur, wie hart, anstrengend, ungerecht und lebensraubend ein Job im Gesundheitsbereich sei. Doch es gibt immer auch eine zweite Seite der Medaille, unter anderem nämlich die Vielseitigkeit des Berufsfeldes. Pflege ist schließlich nicht gleich Pflege, sondern kann auch weitere interessante Arbeitsaufgaben offenbaren, sowie jeder andere Beruf auch.

Mediale Aufmerksamkeit

Hierbei sind wir schon an einem wichtigen Punkt angelangt: Heutzutage ist der mediale Auftritt und die damit verbundenen Bewertungen und Reaktionen extrem wichtig. Wenn man im Internet nicht gut dasteht, nicht weiterempfohlen, markiert oder gelikt wird, hat man kaum noch Chancen, neue Mitarbeiter zu rekrutieren. Das gesellschaftliche Meinungsbild spielt mehr denn je eine wichtige Rolle für die Auswahl eines Ausbildungs- oder allgemein eines Arbeitsplatzes. Einige Unternehmen sind mittlerweile auf den fahrenden Zug aufgesprungen und bewerben ihren Beruf auf den Sozialen Medien, um die richtigen Menschen zu erreichen. Man sollte sich deshalb als Unternehmen danach richten, wen man ansprechen möchte und wo dieses Publikum zu finden ist.

Was können Unternehmen noch tun?

Des Weiteren wird auch viel Wert auf Weiterbildungsmöglichkeiten und Talentförderung gelegt. Ziel sollte dabei sein, Auszubildende zu motivieren und ihnen ein gewisses Maß an Verantwortung zu übertragen. Die Vermittlung von Kompetenzen ist dabei auch ein überlebenswichtiger Faktor für das Unternehmen. Dank kompetenten Mitarbeitern können Probleme identifiziert und gelöst werden, deshalb sollten Aufstiegschancen und/oder Akademisierung mehr unterstützt werden. Am Ende könnten diese Angebote eine Mitarbeiter-Bindung an die Unternehmen begünstigen.

Viele junge Menschen schätzen auch ein diverses Auftreten von Firmen und das Ablegen konservativer Gedanken und Leitfäden. Darunter versteht man die aktive Förderung des weiblichen Geschlechts, die Erkennung des Potenzials auch in älteren Menschen oder die Unterstützung von Mitarbeitern mit Handicap. Heutzutage denkt niemand mehr an veraltete Regeln und Normen. Wer als Unternehmen mithalten möchte, sollte auf Chancengleichheit und die Gleichstellung aller Mitarbeiter achtgeben.

Fazit

Dass der Fachkräftemangel in Deutschland allgegenwärtig ist, erkennt man bereits, wenn man mit offenen Augen durch seinen Alltag geht. Im Lieblingsrestaurant heißt es plötzlich Selbstbedienung, im Autohaus bekommt man erst im Herbst einen Reparaturtermin, der Bäcker hat nicht mehr jeden Tag geöffnet - da die staatlichen Maßnahmen bisher nicht die erwünschten Erfolge gebracht haben, müssen die betroffenen Unternehmen selbst Hand anlegen und eifrig für sich werben. Getreu dem Motto "Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit" sollten die Branchen den Wandel der Arbeitseinstellung, die zunehmende mediale Wichtigkeit und den Wunsch auf Weiterbildung akzeptieren und die unzähligen Möglichkeiten der Kommunikation nutzen, um neue Fachkräfte zu rekrutieren.



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