Roter Lack, goldenes Glitzer und eine Menge Gitarrenriffs: Lord Of The Lost fahren für Deutschland zum Eurovision Song Contest! Für viele war es so überraschend, als auch schockierend, als sie am Freitagabend in der ARD einschalteten und Barbara Schöneberger den Gewinneract des deutschen Vorentscheids für den ESC 2023 verkündete. Lord Of The Lost heißt die Gothicmetalband aus Hamburg, die den Sieg für sich einholen konnte und am 13. Mai nach Liverpool fährt.
Und was haben wir gezittert. Acht Acts sind am Freitag mit teilweise wirklich guten Songs aufgetreten. Sogar Ikke Hüftgold, der übers Tik Tok Voting eine Wildcard für die Show ergattern konnte, wurde als Favorit gehandelt. Gereicht hat es für den Ballermannstar aber dann doch nicht.
Der Fels ohne Brandung
Aber auf Anfang: Als erster sang und vor allem tanzte Trong, der bereits "Vietnam Idol" gewann. Sein "Dare To Be Different" war gar nicht so different, aber dafür lieferte der 30-Jährige knallhart ab. Ich fand die deutsche Zeile übrigens sehr unangenehm, wem ging es noch so?
Als nächstes kam mein persönlicher Cringemoment des Abends: Rene Miller mit "Concrete Heart". Ein wirklich geiles Radiolied, was ich gern höre, aber als Rene auf seinem Felsen ohne Brandung festsaß, musste ich schon arg lachen. Er hockte das ganze Lied in etwa drei Metern Höhe und es sah so aus als würde er gleich ein Ei legen. Wer hat sich das denn ausgedacht? Wir brauchen doch Knaller, Überraschungen, Emotionen. Nun gut.
Barbara will mit Flori einen smoken
Als dritter Act kam die bezaubernde Anica Russo. Wir folgen ihr ins Schilf und bekommen eine James Bond Hymne. Gut gesungen, ein fantastisches Kleid von Designerin Jasmin Erbas und ein guter Gesamteindruck. Ich mag sie und Barbara Schöneberger lud Gast Florian Silbereisen im Anschluss ins Schilf ein, um einen wegzusmoken. Das war lustig.
Mit Lonely Spring erhoffte man sich wohl ein bisschen Action auf der Bühne, die leider ausblieb, obwohl ich das Lied so cool finde. Punkrock aus Passau, der gar nicht so punkig war. Ich finde zwei der Jungs hätte man auch als Double bei Maneskin einschleusen können, oder? Die Performance war solide, das Bühnenbild so la la. Sie blieben stetig auf ihren Podesten, anstatt wild rumzutanzen. Das hat sie auf jeden Fall Anrufe gekostet.
Verliebt in den Hutträger
Als nächster betrat Will Church die Bühne. Sein Wiedererkennungswert, gibt es da überhaupt einen - ja vielleicht eine nette Stimme und ein Hut - reicht nicht für den ESC, denke ich. Er hat fantastisch gesungen, aber Bühnenbild war kaum vorhanden. Ich habe ihn leider schnell vergessen… im Gegensatz zur Jury, die ja sooooo verliebt in den Hutträger war.
Endlich kam Patty Gurdy, die eine meiner persönlichen Favoriten war, an die Reihe. Was soll ich sagen? Ein super Lied, aber der Auftritt war leider ein Flop. Man merkte förmlich Pattys Anspannung und Nervosität, was sich auch im Gesang niederschlug. Viele kritisierten das Kleid und die Strohfasern, zurecht. Was sollte das denn sein? Es tat mir richtig leid, weil ich es ihr richtig gegönnt hätte.
"Endlich mal was, wo man nicht einschläft"
Dann war es endlich soweit und der Ikke Hüftgold Fanblock jubelte ausgiebig. Mit wirklich gutem Bühnenbild hat Ikke einen mittelmäßigen Song hoch professionell abgeliefert. Die Stimmung vorm Fernseher war angeheitert. "Endlich mal was, wo man nicht einschläft", war man sich einig. Ich hätte es nicht schlimm gefunden, wenn wir ihn geschickt hätten, "Hauptsache auffallen" war mittlerweile meine Devise.
Wenn Omi plötzlich headbangt
Das Beste kommt ja bekanntlich zum Schluss. Eine meiner absoluten Lieblingsbands, Lord Of The Lost, traten mit "Blood and Glitter" auf. Ich habe schon über 20 Konzerte dieser Jungs in den letzten zehn Jahren gesehen und weiß, dass sie Künstler durch und durch sind. Für viele waren Lotl vorher kein Begriff, nun aber sind sie in aller Munde und das nicht nur wegen der Optik. Was vorher nur auf Wacken oder dem Wave Gotik Treffen zu finden war, hat es nun in den Mainstream geschafft.
Und wie geil sahen die Hamburger bitte aus? Da hat sogar die Omi große Augen bekommen und will dieses Headbangen mal probieren. Hier hat so gut wie alles gestimmt. Gezittert habe ich, als Chris die ersten Zeilen sang. Das Lied ist unglaublich umfangreich und schwierig zu singen, aber er hat das mit nur ganz wenig spürbarer Nervosität mit Bravour gemeistert - ruhige Parts, Partystimmung, Hymnenschwingungen und heftige Growls und Screams. Sonst kennt man sie vor allem in schwarz, jetzt ging es mehr in Richtung Glamrock. Was soll ich sagen: Sie vereinen Diversität, brechen Clichés auf und erfinden sich von Album zu Album immer wieder neu. Das lieben wir. Zudem sind sie auch super sympathisch, denn ich habe sie schon mehrfach interviewen dürfen. Wenn das keine gute Kombi ist für Liverpool.
Schnappatmungen und Unverständnis
Doch, dass sie gewannen war längst nicht klar. Als heiße Favoriten wurden zwar Ikke Hüftgold, Patty Gurdy und Lord Of The Lost gehandelt. Sie alle hatten die größte Fanbase im Vorfeld, wobei das Voting schon allein deshalb eine Woche im Vorfeld ein bisschen unfair war. Hätte man nur an dem Abend gevotet, wäre das sicher alles nochmal anders ausgefallen. Es gab ja aber noch die Juryvotes. Und da schnitten alle Acts, die besonders waren, richtig schlecht ab und alle "Langweiler" bekamen die Punkte. Da trieb es mir die Schweißperlen auf die Stirn. "Was geht hier vor sich?" Ich fieberte viel zu sehr mit…
Das Publikum zeigt der Jury, wo's lang geht
Ich hätte ja mit allem gerechnet, aber dass Will Church und Rene Miller nach den Juryvotes ganz oben waren nicht. Ich bekam Schnappatmungen, mein Puls raste. "Nochmal einen Typen mit Heulballade können wir nicht bringen", waren sich alle meine Freunde einig und beinahe wandlete sich die Freude in Enttäuschung und Verzweiflung. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass das Publikum alles rausreißen konnte. Und das tat es. Ikke Hüftgold bekam unglaubliche 101 Punkte und hüpfte sich ganz nach oben. Alle anderen bekamen nicht wirklich viele Punkte. Lord Of The Lost erhielten 146 Publikumspunkte. Unglaublich! Damit war eigentlich schon klar, dass sie sich vom Mittelfeld nach ganz oben katapultierten. Da hat die Rockgemeinde doch gezeigt, dass sie ein bisschen mehr sind als die Schlagerbubble. Ob mich das stolz gemacht hat, vielleicht. Viel glücklicher war ich dann, als mir mein Kumpel zuflüsterte: "Ich hab gerechnet, egal, wie viele Punkte der Nächste bekommt, LOTL haben schon gewonnen". Und so geschah es. Ich habe mich so gefreut! Zurecht haben sie gewonnen. Jetzt wollen wir noch mehr Glitzer und Pyro sehen. Dankeschön.
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