Vor genau 50 Jahren, am 8. Februar 1972, fiel im Politbüro des Zentralkomitees der SED der streng geheime Beschluss: Die SED-Führung verlangte die Umwandlung der letzten privaten und halbstaatlichen Unternehmen der DDR in volkseigene Betriebe. Die Familiennamen sollten getilgt, die stolze Tradition ausgelöscht werden. Als Kaufpreis war eine geringe Entschädigung vorgesehen. An diese Zeit der Enteignung erinnert aktuell die Stiftung Familienunternehmen. Trotz der wirtschaftlichen Errungenschaften in den vergangenen 30 Jahren, wirft das Ende der Familienunternehmen in der DDR bis heute Schatten.
Nur Kleinstbetriebe blieben 1972 verschont
1972 waren es noch rund 11.800 Unternehmen, die Demontage und Enteignung bisher überstanden hatten. Nur Kleinstbetriebe mit weniger als zehn Mitarbeitern blieben verschont. Ein paar Monate später war der Beschluss zur Umwandlung in volkseigene Betriebe umgesetzt. "Diese Erfahrungen sollten uns auch heute zu denken geben", meint Professor Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen. "Unternehmerisches Eigentum in Familienhand muss geschützt werden. Eigentum ist die Quelle von effizienter Produktion, Innovation, sozialer Sicherheit und der Schaffung von Arbeitsplätzen. Die soziale Marktwirtschaft und eine freiheitliche Wettbewerbsordnung basieren auf Eigentum."
Zurückerobert und weiterentwickelt
Heute, mehr als 30 Jahre nach der Wende, gibt es wieder erfolgreiche Familienunternehmen in Ostdeutschland. Viele, die 1972 oder davor enteignet wurden, haben ihr Unternehmen zurückerobert und erfolgreich weiterentwickelt. So auch im Bezirk der heutigen IHK Chemnitz: Beispiele sind etwa der Verpackungsspezialist Mugler Masterpack in Crimmitschau, die Dr. Gühring KG (Fräs-, Gewinde- und Bohrwerkzeuge) in Chemnitz, die C.H. Müller GmbH (Automotive) in Heinsdorfergrund, die Wendt & Kühn KG (Holzfiguren, Spieldosen) in Grünhainichen oder die Zenner Ventilatoren GmbH in Olbernhau.
Wirtschaftliche Angleichung kommt voran
"Insgesamt hat sich der Kammerbezirk Chemnitz innerhalb der vergangen 30 Jahre gut entwickelt", informiert die IHK Chemnitz. "Seit Mitte der 1990er Jahre kommt die wirtschaftliche Angleichung kontinuierlich voran. Seit 2010 ist die Wirtschaftskraft je Erwerbstätigen um rund ein Drittel gestiegen." Die Beschäftigungsquote im Wirtschaftsraum Chemnitz gehört mit 67 Prozent im deutschlandweiten Vergleich zu den höchsten. Das liegt auch an dem hohen Anteil der Frauen in Beschäftigung. Aktuell beträgt die Wirtschaftskraft je Erwerbstätigen im Kammerbezirk rund 80 Prozent des Bundesdurchschnitts. Bei der einzelhandelsrelevanten Kaufkraft erreicht die Region 88 Prozent des bundesdeutschen Durchschnitts.
Elektro- und Mikrosystemtechnik bauen Umsätze aus
"Die allmähliche Reindustrialisierung in den ostdeutschen Bundesländern wird überwiegend von mittelständischen Familienunternehmen getragen", schreibt der Historiker Rainer Karlsch in der Studie "Industrielle Familienunternehmen in Ostdeutschland", die von der Stiftung Familienunternehmen herausgegeben worden ist. Schlüsselbranchen im Kammerbezirk Chemnitz sind die Automobilindustrie, der Maschinenbau und die Metallindustrie. In den letzten Jahren bauten vor allem die Elektro- und Mikrosystemtechnik ihre Umsätze aus. Doch nicht nur im industriellen Sektor sind Erfolge zu verzeichnen, sondern vor allem im Dienstleistungssektor.
Blütezeit im 19. Jahrhundert
Trotzdem sei die Bilanz für Ostdeutschland ernüchternd. Dass hier seit dem 19. Jahrhundert das industrielle Herz Deutschlands schlug, sei heute weitgehend vergessen. Dabei hatte die industrielle Revolution fast nirgendwo so früh begonnen wie in Sachsen, Thüringen und Teilen Sachsen-Anhalts: Rohstoffe und Textilien, Maschinen und Automobile, Papier und Glas, Medikamente und Feinmechanik - alles erzeugt von Familienunternehmen. Auch die Reichshauptstadt Berlin war ein industrielles Kraftzentrum. Zwei Weltkriege, Hyper-Inflation, Weltwirtschaftskrise, Konfiszierungen im Dritten Reich - das änderte das Bild. In Ostdeutschland begann unter sowjetischer Besatzung ab 1945 eine Politik der industriellen Regression. Demontagen und Schikanen machten einen Neuanfang für viele Familienunternehmen schwer bis unmöglich. Tausende Unternehmer wanderten ab in den Westen. Wer blieb, litt unter Planwirtschaft, Reglementierung und wurde als Klassengegner bekämpft. Kapitalmangel führte zu einer schleichenden Verstaatlichung. Bis Honecker die "Kapitalisten" dann ganz "beseitigen" wollte. Er inszenierte dies im Februar 1972 als freiwillige Aktion der Komplementäre. Dabei hatten sie keine Wahl.
Zur Stiftung Familienunternehmen
Die gemeinnützige Stiftung Familienunternehmen setzt sich für den Erhalt der Familienunternehmenslandschaft ein. Sie ist der bedeutendste Förderer wissenschaftlicher Forschung auf diesem Feld und Ansprechpartner für Politik und Medien in wirtschaftspolitischen, rechtlichen und steuerlichen Fragestellungen. Die 2002 gegründete Stiftung wird mittlerweile getragen von über 500 Firmen aus dem Kreis der größeren deutschen Familienunternehmen.
Hier geht's zur Studie "Industrielle Familienunternehmen in Ostdeutschland":https://www.familienunternehmen.de/de/studien-und-buchpublikationen/studien/industrielle-familienunternehmen-in-ostdeutschland
Videos mit Berichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind auf dem Instagram-Account der Stiftung zu sehen: https://www.instagram.com/stiftung_familienunternehmen/