Im August und September 2018 kommt es in Chemnitz aufgrund der Tötung von Daniel H. durch einen Asylbewerber zu Aufmärschen Rechtsradikaler und Populisten. "Die Ereignisse vom August 2018 in Chemnitz weisen in ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedeutung weit über sich hinaus und bieten Einblicke in eine sogenannte Risikodemokratie", sagt Henning Laux, Inhaber der Professur für Soziologische Theorien an der TU Chemnitz. Um dieses Phänomen klarer zu fassen, hat Henning Laux an einer zweijährigen ethnografischen Studie geforscht. Unterstützung bekam er von Ulf Bohmann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an Laux` Professur, sowie Jenni Brichzin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Allgemeine Soziologie der Universität der Bundeswehr in München.
Forschung auf Stadtfesten, in Kneipen und Fußballstadien
Laux, Bohmann und Brichzin beobachteten das politische Geschehen in zahlreichen "Arenen" des demokratischen Diskurses - so unter anderem in Stadtratssitzungen und Gottesdiensten, auf Stadtfesten und Demonstrationen, in Kneipen und im Fußballstadion. Hier führten sie Gespräche mit Beteiligten sowie Interviews mit lokalen Expertinnen und Experten des öffentlichen Lebens. Die Forscherin und die beiden Forscher kommen unter anderem zu dem Schluss, dass die Ereignisse Ende August 2018 in Chemnitz wichtige Rückschlüsse darauf geben, wie eine weitgehend apolitische gesellschaftliche Mitte reaktionären Kräften den öffentlichen Raum überlässt. Grund dafür ist unter anderem die Sehnsucht nach einer von jeglicher Politik unbehelligten "Normalität". So können sich Populistinnen und Populisten sowie Rechtsradikale unwidersprochen als legitime Repräsentantinnen und Repräsentanten der Bevölkerung inszenieren, die sich als vermeintliche Opfer gegen staatliche Unterdrückung zur Wehr setzen. "Mit unseren Ergebnissen wollen wir dazu beitragen, antidemokratische beziehungsweise die Demokratie zersetzende Prozesse und Strukturen aufzudecken, bevor sie zu einer ernsthaften Gefahr werden können", sagt Henning Laux.
Chemnitz biete sich dafür besonders an, so der Soziologe. Allerdings nicht, weil diese antidemokratischen Strömungen nur hier zu finden seien, sondern weil sich typische demokratische Gefährdungen der Gegenwart vor Ort in einer besonders ausgeprägten Form beobachten lassen. Im Rahmen der Ereignisse im August 2018 und danach seien sie sichtbar geworden. "Wir wollen wissen, was sich am Fall Chemnitz für die Demokratie im 21. Jahrhundert weit über die Region hinaus lernen lässt", sagt Laux.
Chemnitz als Beispiel für Risikodemokratie
Die zentrale Diagnose des Forschungsteams lautet: In Chemnitz wird sichtbar, was es heißt, in einer Risikodemokratie zu leben. Eine Risikodemokratie ist eine demokratische Gesellschaft, die Spannungen aus ihrer Eigenlogik heraus produziert und auflösen muss. Zum Beispiel sind Proteste Teil des demokratischen Meinungsbildungsprozesses. Wenn populistische Kräfte Proteste nutzen, um paradoxerweise zu behaupten, ihre Meinungsfreiheit werde beschnitten, dann produziert das Spannungen. Mit der Diagnose einer Risikodemokratie stimme man allerdings nicht in die zahlreichen Abgesänge auf Demokratie ein, die in letzter Zeit so populär geworden seien, stellen die Forscher klar. "Im Mittelpunkt steht für uns vielmehr die Feststellung, dass gegenwärtige politische Verwerfungen - etwa der Aufstieg des Populismus und das Erstarken rechtsradikaler Tendenzen - sich nur begreifen lassen, wenn man sie im Zusammenhang mit den enormen Erfolgen der Demokratisierung betrachtet."
Die größten Gefahren drohten demnach nicht hauptsächlich von außen. Demokratien produzierten vielmehr selbst permanent politische Risiken, die aktiv bearbeitet werden müssten. So lasse sich anhand des Falls Chemnitz nachvollziehen, wie zutiefst demokratische Strukturen - etwa das Einfordern von Mitspracherecht oder die Ablehnung von Obrigkeitsstaatlichkeit - dazu eingesetzt würden, demokratische Verfahren und Institutionen zu unterminieren. "Wir müssen lernen, genau solche komplexen, mitunter paradox anmutenden Zusammenhänge zu begreifen."
Unpolitische Haltung der gesellschaftlichen Mitte gefährdet Demokratie
Als besonders bedrohliches demokratisches Risiko identifiziert das Forschungsteam die unpolitische Haltung der gesellschaftlichen Mitte, die sie anhand von drei wesentlichen Aspekten beschreiben. So sei die gesellschaftliche Mitte in Chemnitz in besonderem Maße gemeinschaftsorientiert - aber vor allem nach innen in den engsten Kreis. Man suche den Anschluss an kollektive politische Positionierungen in weiten Teilen nicht aktiv und wehre sich gegen Vereinnahmungen durch Kollektive, egal von welcher politischen Seite. Darüber hinaus nehme dieser Teil der Gesellschaft das demokratische Ringen um politische Haltungen und Perspektiven häufig als Belastung wahr. "Laut unserer Daten stellt sich ein Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit in der gesellschaftlichen Mitte überwiegend dann ein, wenn man vom langwierigen und konfliktbehafteten Ringen um mögliche Perspektiven auf die Welt unbehelligt bleibt", so Laux.
Der dritte Aspekt: Im gleichen Maße, wie die demokratische Auseinandersetzung als Belastung empfunden werde, würden die Chemnitzerinnen und Chemnitzer auch Konflikte an sich meiden. Öffentliche Stellungnahmen und Auseinandersetzungen würden als zermürbend und unlauter erlebt. Den politischen Deutungsformeln misstraue man und ziehe sich bevorzugt in die vermeintliche Fraglosigkeit der eigenen Erfahrungen und Ansichten im Privaten zurück, so das Forschungsteam.
Prozess bis 2025 als Chance und Auftrag
In Zeiten der Risikodemokratie würden die demokratischen Gefährdungen häufig unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegen. Sie zu erkennen sei jedoch sehr wichtig, konstatieren die Forscherinnen und Forscher. Das sei auch ein Grund, warum sie von der apolitischen Mitte so leicht ausgeblendet werden könnten. Mit diesen unterschwelligen Risiken lässt sich aus der Sicht der Forscher erklären, warum Chemnitz von den Ausschreitungen im Jahr 2018 so überrascht werden konnte. Und auch, warum es so schwerfällt, radikalisierenden Dynamiken klare Maßnahmen entgegenzusetzen.
Neue Formen für den Umgang mit den demokratischen Herausforderungen der Gegenwart zu finden, sehen die Autorin und die Autoren als große Chance der erfolgreichen Chemnitzer Kulturhautstadtbewerbung: "Wenn es im Zuge des Kulturhauptstadtprozesses gelingt, wirksame und nachhaltige demokratische Formen des Umgangs mit jenem Risiko zu entwickeln, dann könnte zugleich ein Modell von allgemeiner Bedeutung für die Demokratie entstehen." Dieses Modell könne international im positiven Sinne ausstrahlen.
Kulturhauptstadtjahr als Bühne für radikale Rechte?
Nach ihrer Untersuchung stellt das Forschungsteam allerdings auch in Aussicht, dass die radikale Rechte sehr wahrscheinlich versuchen werde, die internationale Aufmerksamkeit der Kulturhauptstadt Chemnitz im Jahr 2025 für eigene Zwecke zu nutzen. "Die Kulturhauptstadt sollte versuchen, sich durch einen besonderen Fokus auf die Demokratiefrage bestmöglich dagegen zu wappnen." Es gelte die Chance zu ergreifen, Chemnitz vom Problemfall zum Musterbeispiel für die Bewältigung der Risikodemokratie und zum Vorbild für andere Städte werden zu lassen. Es wäre ein Ziel, das ohnehin im Einklang mit der Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 stehe.