Hans Meyer im großen EM-Check: "Über Thomas Müller braucht man mit mir nicht zu reden"

Interview Am Freitag startet die Fußball-Europameisterschaft. Trainerikone Hans Meyer, der mit dem FC Carl Zeiss Jena sowie dem FC Karl-Marx-Stadt/CFC und nach der Wiedervereinigung unter anderem mit dem 1. FC. Nürnberg große Erfolge vorzuweisen hat, blickt im Gespräch mit der BLICK-Redaktion auf den Fußball-Höhepunkt des Jahres voraus und äußert sich auch zu generellen Entwicklungen und Fußball in der Region.

Herr Meyer, welche Rolle trauen Sie dem deutschen Team bei der Europameisterschaft zu?

Welt- und Europameisterschaften sind jeweils Sammelpunkte von Weltklassespielern. Ich glaube allerdings, die "Corona-EM" wird diesmal nicht entschieden durch ein simples Addieren der "Ausblinker" jeder Mannschaft. So wie die deutsche Mannschaft sich momentan in einer Situation befindet, in der auf ein paar Positionen Probleme noch auf ihre Lösung warten, sehe ich auch bei der Konkurrenz kaum Entwicklungsvorteile. Das heißt, letztendlich haben sechs bis sieben Mannschaften die Chance, Europameister zu werden. Dass die Mannschaft des Bundestrainers auf acht selbstbewusste Bayern nach zwei überragenden Jahren zurückgreifen kann, ist für Jogi Löw genauso wichtig wie die Erfolge seiner Nationalspieler bei Chelsea und Man City. Auch die sehr leistungsstarken Gruppengegner müssen kein Nachteil sein. Drei Heimspiele in München, unsere sprichwörtliche Turnier-Tauglichkeit und die Organisationsform dieser EM, dass auch der Dritte die Chance hat, weiterzukommen, sollte uns das Achtelfinale sichern. Alles was danach kommt, wird von Optimismus und ein bisschen Glück abhängen.

Waren Sie überrascht, dass Joachim Löw bei Mats Hummels und Thomas Müller über den Schatten gesprungen ist?

Jedem Trainer in dieser Position muss das Recht der Kaderplanung, inklusive einer Verjüngung, zugestanden werden. Die Notwendigkeit nach der enttäuschenden WM in Russland erschien ja auch vielen mehr als verständlich. Wenn dann in einer auch für den Fußball verrückten Zeit bestimmte Erwartungen nicht erfüllt werden, ist es für den Fußballfachmann nur logisch, dass der Nationaltrainer bei seinem letzten Turnier nicht an die Zukunft dieser Mannschaft denkt, sondern an den optimalen aktuellen Erfolg. Es spricht nicht gegen seine jüngeren Kollegen, sondern vielmehr für Hummels, dass er sich über starke Leistungen bei der Dortmunder Borussia diese Einladung total verdient hat. Über Thomas Müller braucht man mit mir nicht zu reden. Die letzten zwei Jahre bei den Bayern haben auch Jogi überzeugen müssen, dass die Verabschiedung, zum damaligen Zeitpunkt, nicht glücklich war.

Welche Nominierung im Kader hat Sie überrascht und welchen Spieler hätten Sie darüber hinaus mitgenommen?

Ich habe nicht das Gefühl, dass Jogi irgendeinen Spieler vergessen hätte, der mit seiner Klasse helfen könnte, den sehr hohen Erwartungen der 80 Millionen deutschen Nationaltrainer gerecht zu werden.

Wer sind für Sie die Favoriten auf den EM-Titel?

Drei kommen allein aus unserer Gruppe: Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal und Deutschland, weil wir in Turnieren meist steigerungsfähig sind. Aber natürlich sind Mannschaften wie Belgien, England oder Italien immer in der Lage, diesen Wettbewerb zu gewinnen. Vergessen sollte man zudem nicht die Unberechenbarkeit des Fußballs, siehe vergangene Überraschungen wie Griechenland 2004 oder Dänemark 1992.

Wie bewerten Sie die Nominierung des neuen Bundestrainers Hansi Flick bzw. wer wäre Ihr Favorit für diesen Posten gewesen?

Total logisch! Hansi Flicks Riesenerfolg mit den Bayern und seine DFB-Vergangenheit prädestinieren ihn geradezu für diesen Job.

Ist es ein schlechtes Zeichen für die Sportart, dass Fußball ohne Fans (wie uns die Corona-Zeit lehrte) offenbar doch funktioniert und glauben Sie, dass es wieder die ausverkauften Stadien geben wird wie vor Corona?

Es ist im Gegenteil ein herrliches Zeichen für alle Verantwortungsträger im Fußball, dass die unglaublich gute Vermarktungs-Situation über Fernsehverträge demnächst einen Neustart mit Fans überhaupt ermöglicht, weil im letzten Jahr kein Bundesliga-Verein Insolvenz anmelden musste.

Ist es nicht schade, dass nur noch ganz wenig (Live-)Fußball im frei empfangbaren Fernsehen läuft?

Es ist problematisch für unsere treuen Fans, aber vom Fußball sehr schwer zu beeinflussen. In den Kontraktverhandlungen mit den Fernsehanstalten sitzt die DFL selten in der Position der Stärkeren. Die "Negativfolge" dieser Vermarktung zeigt sich vielleicht etwa im sensationellen Verkauf von 10.000 Dauerkarten kurz nach Rostocks Aufstieg in die 2. Liga.

Das Trainerkarussell scheint sich im Spitzenfußball immer häufiger zu drehen. Nach dieser Saison wechselt fast die halbe Bundesliga aus verschiedenen Gründen den Übungsleiter. Wird diese Entwicklung immer drastischer und was denkt ein ehemaliger Trainer darüber?

Trainerwechsel, auch mal in sehr überdurchschnittlicher Frequenz, gab es immer. Neu ist eigentlich nur, dass begehrte Trainer das Arbeitsverhältnis von sich aus beenden. Wenn wir alle Trainer, die in den letzten 30 Jahren plötzlich, unerwartet und unter zum Teil karriereschädigenden Begleitumständen gefeuert, geschasst, rausgeschmissen oder auch nur entlassen wurden, fragen, wie sie zu solchen Ausstiegsklauseln für Trainer stehen, wären die Antworten vorausschaubar.

Wie bewerten Sie die abgelaufenen Saisons von FC Erzgebirge Aue und dem FSV Zwickau?

Aue macht es schon seit langer Zeit in einer komplizierten Konkurrenzsituation überragend. Auch wenn ich aus der Ferne manchmal das Gefühl habe, dass ihr erfolgsverwöhnter Präsident hin und wieder ein Opfer seiner eigenen herausragenden Leistungen mit dem Verein wird. Das zwischenzeitliche Schielen nach den Aufstiegsplätzen ist nachvollziehbar, weckt aber eher unrealistische und damit leitungsbehindernde Erwartungen. Zwickau im gesicherten Mittelfeld der dritten Liga sagt etwas aus über die erfreuliche Saison 2020/21. Dresden und Rostock nach oben, keine Mannschaft in der Schlussphase in Abstiegsnöten. Da kann man nur gratulieren und weiterhin Glück wünschen.

Auch wenn der Chemnitzer FC nur einen Bruchteil seiner Spielzeit absolvieren konnte: Erkennen Sie bei den Himmelblauen nach der erfolgreich beendeten Insolvenz Ansätze für einen echten Neuanfang?

Zum sportlichen Innenleben des CFC kann ich nicht viel sagen, da bin ich zu weit weg. Aufgeatmet habe ich, wie die verrückte Zeit der Insolvenz am Ende ausgegangen ist. Der Club und seine treuen Anhänger können nun hoffen, sich mit guter langfristiger Arbeit und entsprechender Unterstützung wieder in sportlich interessantere Regionen zu begeben. Dafür wünsche ich allen Chemnitzern eine gute und erfolgreiche Zeit.

Haben Sie noch Kontakt zu alten Weggefährten in Chemnitz, Jena, bei Hertha oder in Nürnberg?

Mehr oder weniger. Hin und wieder starte ich eine telefonische Kontrolle, ob der ehemalige Arbeitskollege oder Freund noch lebt. Sie sind ja auch fast alle um die 80, also verstärkt virengefährdet.

Was wünschen Sie sich für den deutschen Fußball und den Fußball hier in der Region für die Zukunft?

Dass der Einfluss von den echten Fußball-Liebhabern uns unseren Fußball so erhält wie wir ihn mögen und verehren und sie sich immer behaupten gegen die Fußballhasser und Polemiker.



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