Kaum zu glauben: Unser Online-Nachrichtenportal BLICK.de ist fast so alt wie der Kulturhauptstadt-Prozess. "Die Bewerbung als Kulturhauptstadt ist das größte Projekt der jüngeren Stadtgeschichte", sagte die damalige Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig vor ziemlich genau vier Jahren. Die Arbeiterstadt Chemnitz eine Hauptstadt der Kultur - und das auch noch auf europäischer Ebene? "Na klar", hörte man kritische Stimmen höhnisch lachen. Zu teuer. Zu viel Bürokratie. Bringt doch eh alles nix. Oder? In ersten Informationsveranstaltungen tastete sich eine zwölfköpfige Lenkungsgruppe mit Chemnitzer Akteuren, Künstlern und Kulturschaffenden an das Thema heran. Die ausländerfeindlichen Demos infolge einer tödlichen Auseinandersetzung am Rande des Stadtfestes waren im Spätsommer 2018 schließlich Wasser auf die Mühlen der Skeptiker. So eine Metropole will Europas Kulturhauptstadt 2025 werden? "Ja, jetzt erst recht!", lautete die Devise.
Die erste Etappe
Den Impuls zur Bewerbung setzte Barbara Ludwig, die als Ministerin schon bei der Bewerbung von Görlitz dabei war. 2006 scheiterte die Stadt jedoch knapp an Mitbewerber Essen. "Ich habe damals schon überlegt, ob das ein Weg ist, den wir auch gehen könnten. Natürlich klingt es erst einmal vermessen, wenn man als Oberbürgermeisterin den Chemnitzern erzählt, dass wir uns als Kulturhauptstadt Europas bewerben - neben Dresden", beschrieb sie die ersten Schritte in die Öffentlichkeit. Chancen gegen die Landeshauptstadt malte sie sich entgegen vieler Chemnitzer dennoch aus. Es gehe nicht darum, zu zeigen, was man alles hat, sondern zu zeigen, was man imstande ist, zu schaffen. Im Grunde sei der Wettbewerb ein Geschenk, "das wir mit den Aufgaben füllen können, die wir sowieso haben", sagte Ludwig. Passend dazu wurden durch die Stadt in den kommenden Jahren regelmäßig sogenannte Mikroprojekte ausgerufen.
Im Wettbewerb "Nimm Platz" konnten außerdem Ideen zur Gestaltung öffentlicher Plätze eingereicht werden. Die nötigen finanziellen Mittel kamen von Chemnitzer Unternehmen, die sich unter anderem zum KLUB 2025 zusammenschlossen und unter dem Motto "Wirtschaft braucht Kultur. Kultur braucht Wirtschaft" den Weg zur Kulturhauptstadt unterstützten. Den Geist öffnen und und Räume schaffen - mit dieser Philosophie und dem ersten Bid Book im Gepäck zog Chemnitz im Dezember 2019 an den sächsischen Mitbewerbern Dresden und Zittau vorbei und schaffte es auf die so genannte "Shortlist" der Bewerberstädte. Nun waren es bundesweit nur noch vier Mitbewerber um den Titel. Doch Chemnitz hatte von der Jury auch Aufgaben an die Hand bekommen, die es innerhalb weniger Monate zu lösen galt.
Ein Jahr zwischen Kunst und Krise
Was war das für ein Jahr 2020? Mitten in der globalen Corona-Krise war Ende Oktober ein kollektiver Jubelschrei aus Sachsens drittgrößter Stadt zu vernehmen. Die Jury hatte Chemnitz nach dem digitalen Jurybesuch und der Präsentation des Bid Book II zur Kulturhauptstadt Europas 2025 ernannt. Doch von vorne: Noch Anfang des Jahres offenbarte der Jurybericht die Mängel der Chemnitzer Kulturhauptstadt-Bewerbung: Der Stadt fehle es im Jahr 2025 an überzeugenden Highlights im Programm, um internationale Gäste anzuziehen. Zudem werde die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, wie mit dem benachbarten Tschechien und Polen, nicht ausreichend untersucht. Das Angebot gehe außerdem nicht auf die Bedeutung und die Folgen der Proteste im Sommer 2018 aus europäischer Perspektive ein. Es fehle ein Plan, mit anderen diesbezüglich zu diskutieren und von ihnen zu lernen, einschließlich internationaler Künstler und anderer europäischer Städte. Für das Bewerbungsbuch der zweiten Runde musste also einiges nachgebessert werden - innerhalb weniger Monate. Und ausgerechnet in diesem Zeitraum nahm die globale Katastrophe ihren Lauf und das Corona-Virus legte viele Pläne und Ideen zunächst auf Eis. Das Kulturhauptstadt-Team machte aus der Not eine Tugend und zeigte der Konkurrenz, wie man die Bevölkerung im digitalen Zeitalter - und besonders über Social Media-Kanäle - mit ins Boot holt. Der Prozess wurde greifbarer und transparenter.
Die zweite Bewerbung, das Bid Book II, setzte den Fokus vor allem auf die Macherinnen und Macher von Chemnitz und seiner Region. Unter dem Motto "C the unseen" richtet Chemnitz2025 den Blick außerdem auf Ungesehenes: Auf die Ungesehenen der "stillen Mitte" genauso wie die Ausgegrenzten. Auf die ungesehene Stadt, die ungesehenen europäischen Nachbarn, die ungesehenen Orte und Biografien, die ungesehenen Talente in jedem Einzelnen. Eine Radsportinitiative aus 39 ambitionierten Chemnitzer Freizeitsportlern radelte mit der 100-seitigen Bewerbung schließlich zur Übergabe nach Berlin.
Chemnitz und die große, weite Welt
Wie es sich anfühlen kann, wenn internationale Künstler einer Stadt ihren Stempel aufdrücken, zeigte im Sommer 2020 das Public Art-Projekt GEGENWARTEN | PRESENCES. 20 Künstlerinnen, Künstler und Kollektive tobten sich in Chemnitz mit Interventionen, Skulpturen, Installationen und Performances aus - begleitet mit einer kontroversen Diskussion. Mit einem im Schlossteich versenkten Auto konnten eben nicht alle Chemnitzer etwas anfangen. Auch über die skulpturale Installation "Der Darm" im Schillerpark rümpften so manche Passanten die Nase. Die beiden Künstlerinnen knüpften damit an das "ikonische Wahrzeichen" der Stadt, das Marxmonument, an. Sie brachen mit der traditionellen Bildnisdarstellung von Menschen als Kopf und persiflierten die "Heldendarstellung" im öffentlichen Raum. Mit dem im gleichen Größenverhältnis wie Marx' Kopf rekonstruierten Darm rücken sie ein lebenswichtiges Organ in den öffentlichen Fokus. Am Ende blieb das Fazit: Kunst muss nicht gefallen, Hauptsache ist, sie löst etwas aus.
Keine Pause: Das Jahr nach dem Titelgewinn
Seit der Titel-Verkündung ist einiges passiert: die Gründung der Kulturhauptstadt-GmbH samt Ernennung ihres Chefs, die Wahl des Aufsichtsrates, Vertragsunterzeichnungen wie die Kooperationsvereinbarung mit dem MDR oder die Vereinbarung zur Finanzierung durch Bund und Länder. Insgesamt stehen rund 66 Millionen Euro von Bund, Land und Stadt bereit, die einen Teil des Gesamtbudgets von 91 Millionen Euro ausmachen. Auch die ersten Aktionen und Projekte sind bereits angelaufen, schließlich spielt sich Kulturhauptstadt nicht erst im Jahr 2025 ab.
So wurden die Blühwiesen-Aktionen fortgesetzt und mittlerweile an 32 Standorten in der ganzen Stadt optisch ansprechendes Stadtgrün ausgesät. Zudem wurde die Internationale Friedensfahrt, das bekannteste Amateurradsport-Event hinter dem Eisernen Vorhang, wieder aufgelegt. Das im Rahmen der Bewerbung um den Titel entwickelte Projekt "European Peace Ride" bot bereits im vergangenen Jahr mit zwei Etappen für ambitionierte Freizeitradsportler einen Vorgeschmack auf das Event in 2025. Die beiden Etappen führten rund 90 Radsportbegeisterte im September über rund 400 Kilometer von Chemnitz nach Prag und zurück. Um die kulturelle Verbindung zwischen Kunst und Sport hervorzuheben, wurden auf der Strecke 15 Städte und Gemeinden, die im Kunstprojekts "Purple Path" verankert sind, angefahren. Der sogenannte "Purple Path" ist 2025 das kulturelle Rahmenprogramm der Region. Der Pfad verbindet über Rad- und Wanderwege, Landstraßen und Öffentlichen Verkehrsmittel Chemnitz als Stadt der Moderne mit rund einer halben Million Menschen in mehr als dreißig Städte der Region. Um diesen Kunstweg aus Skulpturen und Interventionen internationaler und lokaler Künstlerinnen und Künstler entfaltet sich eine europäisch begründete Geschichte des Bergbaus und der Industrialisierung. Darüber hinaus trafen sich Macherinnen und Macher der Kulturhauptstadt Europas 2021 in sogenannten Maker Ateliers. Im Fokus der sechs maßgeschneiderten Online-Kurse stand vor allem die Digitalisierung.
Das Kunstprojekt "WE PARAPOM!" ist eines der ersten sichtbaren Projekte im Programm der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025. Die europäische Parade der Apfelbäume, kuratiert von der österreichischen Künstlerin Barbara Holub, wird bald quer durch Chemnitz verlaufen. Die Parade führt über Grundstücksgrenzen hinweg und bereitet damit den Nährboden für das Zusammenkommen von Menschen. Das Kunstprojekt startete Anfang November auf dem Parkplatz der Albert-Einstein-Grundschule in Markersdorf, wo in aufwendiger Handarbeit mit Hammer und Meißel Flächen entsiegelt wurden, um spätere Baumpflanzungen zu ermöglichen. Die geplante Route der europäische Parade der Apfelbäume gibt es unter https://weparapom.eu/Route-der-Parade zu sehen. Wie es in unserer Kulturhauptstadt weitergeht, werden wir selbstverständlich immer im BLICK behalten!