Wann ist ein Mann ein Mann? - ZDF-Psychologe Leon Windscheid im Interview

"Terra Xplore" über toxische Männlichkeit Am 8. September führt der Psychologe Dr. Leon Windscheid durch gleich zwei Dokumentationen im ZDF. Einmal geht es in "Terra Xplore" um toxische Männlichkeit. Später dann in "Terra X" um die Seele berühmter Metropolen wie New York. Braucht unsere Welt mehr Psychologie, Leon Windscheid?

Leon Windscheid ist der Aufsteiger unter den Moderatoren des aktuellen Fernsehens. Drei Folgen seiner bereits viel diskutierten Doku "Terra Xplore: Toxische Männlichkeit" (Sonntag, 8. September, 18.30 Uhr) zeigt nun auch das lineare ZDF-Fernsehen. In der Mediathek steht die sehr empfehlenswerte und vor allem verständliche Studie über Geschlechterbilder schon länger. Auffällig wurde der promovierte Psychologe erstmals 2015, als er bei Günther Jauchs "Wer wird Millionär?" den Hauptgewinn von einer Million Euro holte. Mittlerweile erklärt der 35-Jährige dem - auch jüngeren - ZDF-Publikum die Welt aus psychologischer Sicht. Was generell gut ankommt: Windscheid geht mit seinen Programmen auf Tour und spielt in großen Hallen vor ausverkauftem Häusern. Sogar die Psychoanalyse von Städten treibt Dr. Leon Windscheid voran. Ebenfalls am 8. September (19.30 Uhr) im Programm: Der Auftakt seiner neuen Reihe "Terra X: Weltstädte", für die der ZDF-Psychologe nach New York reise. Keine Frage, da startet einer gerade so richtig durch.

teleschau: Die Reihe "Terra Xplore" möchte ergründen, wie das Menschsein funktioniert. Wird es Zeit, dass wir anfangen, die Dinge psychologischer zu betrachten?

Dr. Leon Windscheid: Wir erweitern damit zumindest unseren Fokus - gegenüber dem Mutterschiff "Terra X". Da ging es ja zunächst um Mumien, alte Städte und vergessene Völker. Mit Mai Thi gab es dann noch Chemie, mit Mirko Drotschmann Geschichte, und Harald Lesch klärt über Kosmos und Co auf. Alles wichtige Felder der Wissenschaft, aber ich finde es gut, das alles durch Psychologie zu ergänzen. Gerade zu einer Zeit, in der viele Leute mit dieser Welt hadern. In der sie überfordert sind und vielleicht das Gefühl haben: Mein Sein in dieser Welt funktioniert nicht mehr richtig.

teleschau: Woran liegt das?

Windscheid: Zum Beispiel daran, dass wir gefühlt immer mehr und schnellere Lösungen für alles benötigen. Und das überfordert uns.

"Life-Coaching-Versprechen dieser Art sind fast immer Bullshit"

teleschau: Bietet die Psychologie Lösungen?

Windscheid: Zumindest gibt Psychologie Antworten. Sie bietet meist keine perfekten Lösungen an, aber man versteht besser, warum uns Dinge so oder anders vorkommen - oder warum wir unter etwas leiden. Natürlich bietet die Psychologie auch Strategien an, wie man Probleme angehen kann. Allerdings meist nicht im Sinne einer schnellen Lösung. Man schaut sich keine Folge "Terra Xplore" an und geht raus aus dem Abend mit einem neuen Leben. Life-Coaching-Versprechen dieser Art sind fast immer Bullshit. Egal, an welcher Stelle man auf sie trifft. Uns geht es darum, neue Impulse zu setzen und wissenschaftlich fundiert einen Blick auf sich selbst zu werfen.

teleschau: Fester Bestandteil des Formats sind Experimente, mit denen Sie zu den Menschen gehen und Dinge ausprobieren oder testen. Wie wichtig ist dieser Ansatz?

Windscheid: Das Forschungsobjekt der Psychologie ist der Mensch. Nicht die einzelne Stimme, das wäre zu anekdotisch, sondern der Blick auf eine Stichprobe - empirisch und wissenschaftlich fundiert. Die beste Kombi fürs TV ist: Einerseits haben wir große Stichproben aus der Forschung, aber um die nachvollziehbar und begreifbar zu machen, gehe ich in "Terra Xplore" zu den Menschen, wo ich Experimente aus Laboren oder Feldstudien am konkreten Kleinbeispiel nachvollziehen kann. Wissenschaftliche Studien sind oft sehr interessant, aber sperrig zu lesen und zu verstehen. In den Experimenten versuchen wir, sie anschaulich und spannend erlebbar zu machen.

teleschau: Für die Doku über "Toxische Männlichkeit" gingen Sie an eine Berufsschule und konfrontierten eine Klasse mit Aussagen über Männlichkeit. Die Schüler konnten sich durchs Aufstellen auf einer Linie positionieren und ausdrücken, wie sehr sie einer Aussage zustimmen oder sie ablehnen ...

Windscheid: Und so etwas bietet tolle Erkenntnisse! Da ist diese junge Frau, die klar sagt, ein Mann, der sich die Fingernägel lackiert, würde ihr nicht gefallen. Da könnte man nun sagen, "das ist aber nicht up to date", oder man erkennt an: auch das ist ein Männlichkeitsbild, das unter jungen Frauen existiert. Genauso wie die Aussage, dass ein echter Mann gerne Fleisch ist. Natürlich ist es interessant und vor allem anschaulich, was die 16-jährigen Jungs in dieser Stichprobe zum Thema sagen.

"Viele junge Männer empfinden heute eine große Orientierungslosigkeit"

teleschau: Viele junge Männer scheinen sich wieder stark in Richtung klassische Männlichkeitsbilder zu bewegen: Pumpen im Fitnessstudio ist ein Megatrend, auch das erwähnte Fleischessen steht hoch im Kurs. Täuscht dieser Eindruck?

Windscheid: Tatsächlich empfinden viele junge Männer heute eine große Orientierungslosigkeit. Ich möchte klarstellen: In dieser Doku geht es nicht darum, dass wir Männer die bemitleidenswerten Opfer der modernen Welt sind. Oder, dass wir nun endlich mal Zuspruch brauchen. Männer erhalten diesen Zuspruch seit Jahrtausenden. Sie füllen die meisten Machtpositionen aus und haben von einer sehr männlich gedachten Welt in der Vergangenheit fast ausschließlich profitiert. Es geht vielmehr darum, dass wir Männer Vorteile haben, wenn wir anfangen, Männlichkeitsbilder zu hinterfragen und neu zu denken. Also wenn wir uns zumindest breiter definieren.

teleschau: Welche Konsequenz ziehen wir Männer daraus?

Windscheid: Zunächst wäre es gut, wenn wir es schaffen, offener zu denken. Es ist okay, im Fitnessstudio zu pumpen, Fleisch auf den Grill zu werfen und das Lackieren der Fingernägel für sich abzulehnen. Genauso ist es aber okay, wenn man das Gegenteil tut. Man kann es nicht mehr so einfach in Schubladen packen, was Mannsein oder Frausein bedeutet. Geschlechterrollen sind heute eine Herausforderung. Doch wir haben aber unterschätzt, wie groß diese Herausforderung gerade für Jungs ist. Es gibt den Girls'Day, Frauenquoten, und wir bemühen uns, Frauen in männliche Studiengänge und Berufe zu bringen. All das ist richtig und wichtig. Doch vielleicht haben wir vergessen, die Jungs auf dieser Reise in die neue Zeit ein bisschen mehr mitzunehmen.

teleschau: Eine Folge der Doku beschäftigt sich mit Stereotypen und warum sie für uns wichtig sind. Warum eigentlich?

Windscheid: Unsere Welt ist sehr komplex geworden. Auch in Sachen Männlichkeitsbilder habe ich ja gerade zum komplexeren, offenen Denken aufgerufen. Komplexität dieser Art kann unser Gehirn aber nicht von morgens bis abends auf allen Wahrnehmungskanälen leisten. Es ist nicht möglich, bei jedem Menschen, der uns in einem Park oder auf der Straße begegnet, lange darüber nachzudenken, ob das jetzt ein Mann ist oder eine Frau. Oder wo auf dem Spektrum dazwischen sich dieser Mensch befindet. Man würde verrückt werden in einer derart komplexen Welt. Stereotype, also einfache Raster, helfen uns dabei, die Welt herunterzubrechen. So, dass wir noch ausreichend Gehirnkapazität für andere, oft überlebenswichtige Aufgaben haben.

"Man kann eine Stadt ebenso kennenlernen wie einen Menschen"

teleschau: Können Stereotype auch hilfreich für die Gesellschaft sein?

Windscheid: Ja. Erstens treffen Stereotype oft zu. Es gibt sehr viel mehr klassisch männliche Männer als jene, die sich nicht in diesem Schema sehen. Also hat man meistens Recht, wenn man einen Mann als jemanden erkennt, der auch so gelesen werden möchte. Oder nehmen wir an, ein 80-Jähriger und ein 20-Jähriger überqueren eine breite, viel befahrene Autostraße. Natürlich gibt es 80-Jährige, die immer noch schnell laufen können. Genauso wie sich 20-Jährige auf der Straße befinden, die schlecht zu Fuß sind. Trotzdem hilft uns das Klischee, dass die meisten 80-Jährigen etwas langsam sind, im Alltag weiter. Als wartender Autofahrer vermute ich, dass dieser Mann etwas länger braucht, um die Straße zu überqueren. Und als Fußgänger habe ich vielleicht den Impuls, diesem Menschen zu helfen. Beides ist durchaus sinnvoll für alle.

teleschau: Mit "Terra X: Weltstädte" - New York" läuft noch ein weiteres Format mit Ihnen am selben Abend im linearen ZDF-Fernsehen wie der erste Teil ihrer Männlichkeitsstudie. Kann man auch Städte psychologisch betrachten?

Windscheid: Auf jeden Fall. Es ist der erste Film einer Reihe, für die ich neben New York auch nach Istanbul und Paris reise. Jede große Stadt hat ihre eigene Psychologie oder wenn man es anders ausdrücken will: ihre eigene Seele. Das hat mich interessiert an dieser Reihe. Ich wollte erklären, woher die Psychologie eines Ortes kommt. Klassische Reise- und Städtereportagen gibt es zuhauf. Mir war wichtig, zu verstehen, warum ein Ort so ist wie er ist - und was das mit uns macht. Oft finden wir bestimmte Städte inspirierend oder frustrierend. Aber warum das so ist, hat mich interessiert.

teleschau: Haben Sie eine Antwort gefunden?

Windscheid: In New York spürt man sehr deutlich dieses amerikanische Mind Set: höher, schneller, weiter. Oder auch: Alles ist möglich! Darauf reagieren viele hier skeptisch. Wir sagen: Ist das nicht übertrieben, glauben die Amerikaner denn selbst an so etwas? Wenn man dann aber in New York ist, fühlt man, dass da doch etwas dran ist. Welche Krisen diese Stadt meistern musste - da war fast alles dabei: Naturkatastrophen, Armut der krassesten Art, Brände, Terroranschläge. Und doch entstehen in New York ständig und weiterhin Superlative. Das kann man anstrengend finden, trotzdem hilft es mir dabei, die Welt besser zu verstehen. Oder wenn ich in Frankreich bin und dort "Savoir-vivre" erlebe: die Kunst, das Leben zu genießen. Natürlich ist auch das ein Klischee, aber eines, das man vor Ort anschauen und begreifen kann. Ich bin überzeugt davon, dass man eine Stadt fast ebenso kennenlernen kann wie einen Menschen.

"Auch Liebe zu erklären, würde mich interessieren"

teleschau: Haben Sie Angst, dass wir die Welt auch überpsychologisieren könnten?

Windscheid: Ja, und das möchte ich auf jeden Fall vermeiden - in all den Formaten. Es soll bodenständig und faktenorientiert bleiben. Und so anschaulich, dass wir die Verbindung zu unserem Leben immer klar erkennen können.

teleschau: Welche Themen möchten Sie in "Terra X" und "Terra Xplore" bald angehen?

Windscheid: Für "Terra Xplore" werde ich mich mit Optimierung auseinandersetzen. Das ist ja ein Riesentrend unserer Zeit. Meine nächste Tour heißt "Alles Perfekt". Das Thema interessiert mich daher schon längere Zeit sehr, und ich werde dafür Menschen treffen, die in vielerlei Hinsicht an ihre Grenzen gehen. Es ist okay, wenn wir wachsen wollen und Dinge besser machen. Der Fehler ist nur, wenn wir das zu harsch machen und uns selbst gegenüber gnadenlos werden. Und für "Terra X"? Da würden mir sofort weitere Städte einfallen, die ich gerne besser verstehen möchte. Zum Beispiel Rom oder Tokio. Man könnte in "Terra X" aber auch mal berühmte Persönlichkeiten psychologisch betrachten oder eine Reihe über die krassesten Psychologie-Experimente machen. Auch Liebe zu erklären, würde mich interessieren.



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