Ist es wieder soweit? Wird aus Solidarität und Mitgefühl einmal mehr Unverständnis und Gleichgültigkeit? Diesen Sinneswandel erlebte Deutschland und speziell Sachsen bereits während der Corona-Pandemie. Nach dem anfänglichem Mittragen der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wurde Hass auf die Politik und das System, der sich auf den Straßen entlud. Forscher sehen nun das Potenzial für eine weitere Protestwelle. Diesmal aufgrund der drohenden Energiekrise und hoher Inflation. Nicht wenige fordern gar die Aufhebungen der Sanktionen gegen Russland, die aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verhängt wurden. "Das ist nicht unser Krieg", heißt es bereits in Offenen Briefen.
Weitere Radikalisierung befürchtet
Bundeskanzler Olaf Scholz sagte in seiner Sommerpressekonferenz, er glaube nicht, dass es zu Unruhen komme. Doch schon jetzt wird in sozialen Netzwerken die Stimmung von Akteuren wie den rechtsextremen Freien Sachsen und der Identitären Bewegung angeheizt. Sachsen werde bei kommenden Protesten wieder ein Hotspot sein, sagte Piotr Kocyba, Protestforscher an der TU Chemnitz, der Deutschen Presse-Agentur. Kocyba rechne mit einer weiteren Radikalisierung der Protestierenden im Ton bis hin zu Gewaltfantasien sowie im Umgang mit Sicherheitsbehörden. Sollte die Krise länger dauern, sei auch nicht ausgeschlossen, dass sich Menschen zu terroristischen Gruppen zusammenschließen.
Freie Sachsen planten inszenierten Prozess
Das jüngste Geschehen in Heidenau bei Dresden gebe einen Vorgeschmack auf die kommenden Monate, so Piotr Kocyba. Dort wollten die Freien Sachsen bei einer Kundgebung einen inszenierten Prozess gegen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck auf die Bühne bringen. Im Rahmen der Inszenierung sollte dieser zu 16 Wochen Pranger auf dem Marktplatz verurteilt werden, was die Veranstalter auch bildlich darstellen wollten. Das Verbot der Versammlungsbehörde war später von Gerichten bestätigt worden. "Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Szenen Straftatbestände erfüllen. [...] Die emotionalisierende Herabwürdigung des Bundeswirtschaftsministers durch sein öffentliches Zurschaustellen an einem Pranger solle diesen schutzlos öffentlichen Schmähungen aussetzen und verdeutlichen, dass gegen ihn Maßnahmen der Selbstjustiz [...] geboten seien", hieß es in der Begründung. Kocyba: "Das war eine ganz bewusste Provokation und Grenzüberschreitung, wie sie typisch ist für die äußerste Rechte."
Festes Protestmilieu in Sachsen
Der sächsische Verfassungsschutz hatte kürzlich erklärt, den Rechtsextremen sei mit dem Thema Energiekrise bisher noch kein Mobilisierungserfolg gelungen. Extremistische Parteien versuchten aber, von sozialen Abstiegsängsten der Bürger beziehungsweise dem "sozialen Sprengstoff" durch steigende Lebenshaltungskosten zu profitieren. Nach Einschätzung Kocybas könnten die Proteste im Herbst ein ähnliches Ausmaß wie zu den Corona-Demos erreichen. Das hänge davon ab, wie stark die Energiepreise tatsächlich steigen und ob mögliche Einschränkungen der Gasversorgung Verbraucher treffen. Sachsen sieht er künftig als Brennpunkt, weil sich hier in den vergangenen Jahren feste Protestmilieus etabliert hätten. "Hinter der Ablehnung der Flüchtlings- und Corona-Politik steckt eine allgemeine Ablehnung dessen, was die Demonstrierenden als gesellschaftlichen Mainstream und ich als demokratischen Konsens bezeichne." Zudem seien schon zu Zeiten von Pegida häufig Russland-Fahnen auf den Kundgebungen zu sehen gewesen. Viele Teilnehmer sähen in Putins Russland das Gegenmodell zur liberalen Demokratie, die sie ablehnten. Entsprechend werde schon seit Beginn des russischen Angriffskrieges und angesichts der breiten Unterstützung der Ukraine hierzulande in sozialen Netzwerken Stimmung gemacht.
erschienen am 19.08.2022