Bislang gab die Bundesregierung in der Pandemie zwar den Maßnahmenkurs vor, doch die Umsetzung lag stets in der Hand der Bundesländer - bis jetzt. Mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes erhält der Bund nun die Befugnis, Kontaktbeschränkungen und Schließungen anzuordnen. Abgestimmt wurde über das "Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite". Die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes ist ein Teil davon und sieht im Herzstück eine bis zum 30. Juni befristete Notbremse bei hohen Infektionszahlen vor. Doch wie sinnvoll sind die schärferen Corona-Regeln ab dem 7-Tage-Inzidenzwert von 100 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner?
Flickenteppich bleibt
Fakt ist: Der viel kritisierte Flickenteppich der Corona-Regeln lässt sich auch mit der Maßnahmenkontrolle des Bundes nicht vermeiden. Schließlich sind die Regeln von der Inzidenz abhängig. Das heißt im Klartext: Während ein Landkreis die Läden aufgrund einer hohen Inzidenz dicht machen muss, kann das im Nachbarlandkreis schon ganz anders aussehen: Geringe Ansteckungsrate und somit offene Geschäfte, Kitas und Schulen. Der Einkaufstourismus ist vorprogrammiert. Hinzu kommt, dass nicht zwingend überall die gleichen Regeln gelten müssen. In einigen Bundesländern gibt es teilweise schon jetzt noch strengere Corona-Beschlüsse. Die Bundes-Notbremse stellt aber sicher, dass die Länder ab dem Inzidenzwert von 100 nicht lockerer agieren.
Inzidenzwert erneut in der Kritik
Der alleinige Blick auf die Inzidenzen birgt jedoch ein Problem: Der Wert gebe "aufgrund der durchaus erwünschten Ausweitung von Testaktivitäten zunehmend weniger die Krankheitslast in der Gesellschaft wieder", schrieben der ehemalige Chef-Virologe der Berliner Charité, Detlev Krüger, und der ehemalige WHO-Experte Klaus Stöhr in einem offenen Brief in der "Welt". Die 7-Tage-Inzidenz differenziere nicht, in welchen Altersgruppen, Lebensräumen und Bevölkerungsgruppen Infektionen auftreten. Eine gleich hohe Inzidenz kann dramatisch unterschiedliche Bedeutung haben." Nicht Infektionen, sondern Erkrankungen und ihre Schwere seien für Lockdown-Maßnahmen wichtig. Fakt ist aber auch: Die Patienten, die aufgrund von Covid-19 auf den Intensivstationen liegen, werden mehr - aktuell (Stand: 22. April) sind es etwas mehr als 5.000. Vor einem Monat waren es noch 2.000 Intensivpatienten weniger. Heißt: Harte Maßnahmen sind in der derzeitigen Situation notwendig, keine Frage. Aber gehören Ladenschließungen zwingend dazu?
Click & Collect unabhängig von Corona-Werten
Die Notbremse der Bundesregierung sieht vor, dass Einkaufen bei den meisten Nicht-Lebensmittelhändlern bei Inzidenzen zwischen 100 und 150 nur mit Terminvereinbarung und negativem Test möglich ist. Bei höheren Zahlen soll noch das Abholen bestellter Waren möglich sein. Dieses sogenannte Click & Collect unabhängig von den Corona-Werten bewertet der Handelsverband Deutschland (HDE) positiv. Trotzdem gehe die Corona-Notbremse in wesentlichen Bereichen am Ziel vorbei. "Eine Schließung der Geschäfte bringt uns im Kampf gegen die Pandemie nicht weiter, damit bleibt es weiterhin bei Symbolpolitik", so HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Denn beim Einkaufen sei das Infektionsrisiko nachgewiesenermaßen lediglich niedrig, das würden sowohl die TU Berlin als auch das Robert-Koch-Institut bestätigen. Die Politik müsse endlich zielgerichtet vorgehen und in den Bereichen ansetzen, in denen die Infektionsgefahr am höchsten ist. Genth: "Ansonsten kommen wir aus dem Lockdown nicht so bald heraus."
Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen
Eine Studie der Technischen Hochschule Zürich fand heraus, dass Ladenschließungen im Frühjahr 2020 zu einer 22-prozentigen Verringerung der Mobilität führten und die Schließungen somit zu den effektivsten Mitteln gegen die Verbreitung des Coronavirus gehörten. Eine statistische Studie der Universität Kassel kam allerdings zu einem ganz anderen Ergebnis: "Der Effekt der Geschäftsschließungen war kaum nachweisbar", hieß es darin abschießend. "Masken und Kontaktbeschränkungen waren wesentlich effektiver." Die Wahrheit liegt - wie so oft - wahrscheinlich in der Mitte. Festhalten lässt sich die Erkenntnis, dass laut führender Aerosol-Forscher im Innenbereich das Ansteckungsrisiko wesentlich höher ist, auch wenn die Besucherzahl auf die verfügbare Einkaufsfläche begrenzt wird. Denn je länger die Menschen dort bei schlechter Belüftung ausharren, desto leichter hat es das Virus, besonders die wesentlich ansteckendere Mutante. Machen vor diesem Hintergrund also auch die geplanten Schulschließungen Sinn?
Schulschließungen ab Inzidenz von 165
In Bezug auf das Infektionsgeschehen in Schulen hat die Bundesregierung noch einmal nachgebessert: Schulen werden nun ab einer Inzidenz von 165 geschlossen. Den einen Kritikern ist dieser Wert zu hoch, den anderen zu niedrig. "Besonders absurd" nennt es die Kreisvorsitzende der FDP Erzgebirge, Ulrike Harzer. "Kein einziger Wissenschaftler hat diesen Wert empfohlen. Er basiert ausschließlich auf einem politischen Handel zwischen CDU/CSU und SPD. Das gefundene Ergebnis erinnert leider eher an einen Basar als an gezielten Gesundheitsschutz." Die Gesetzesverschärfung sorge in ihrem Landkreis unter anderem dafür, dass die Schüler ihre Schulen aufgrund der Inzidenzzahlen womöglich bis zu den Sommerferien nicht mehr besuchen können. Folglich ist die Frage berechtigt: Welche Rolle spielen denn nun die Schulen im Pandemiegeschehen?
Ein Sechstel aller Infizierten sind Kinder
"Das Risiko, dass sich Kinder mit dem Coronavirus anstecken ist relativ gering." Zu diesem Schluss kam das Robert-Koch-Institut noch im vergangenen Sommer. Doch schon damals wurde vermutet, dass die Dunkelziffer in Bezug auf Infektionen mit dem Coronavirus gerade bei Kindern und Jugendlichen enorm hoch ist, da der Krankheitsverlauf in diesem Alter häufig ohne oder lediglich milden Symptomen verläuft. Immer mehr Studien belegen nun tatsächlich: Kinder und Jugendlichen sind in stärkerem Ausmaß als lange gedacht Teil des Infektionsgeschehens. Aktuelle Zahlen des Robert Koch-Instituts und des Statistischen Bundesamts zeigen, dass gut ein Sechstel (16 Prozent) aller Infizierten Kinder sind. Das liegt nicht zuletzt auch an der neuen, ansteckenderen Mutante. Wie hoch die Ansteckungsgefahr in Klassenräumen tatsächlich ist, haben Wissenschaftler der TU Berlin berechnet. Demnach liegt das Ansteckungsrisiko bei Wechselunterricht, Masken- und Abstandspflicht sowie regelmäßigem Lüften bei einem R-Wert von 2,9. Das hieße, ein Kind steckt trotz aller Maßnahmen drei weitere an. Der bundesweite R-Wert lag in den vergangenen vier Wochen nicht höher als 1,17. Grund genug, in den Schulen die Notbremse zu ziehen - auch wenn die Inzidenz von 165 eher ein politischer und kein wissenschaftlicher Schwellwert ist.
Diskussionsstoff Ausgangssperre
Doch wie steht es um die viel diskutierte nächtliche Ausgangssperre? Ab einer 100er Inzidenz gelten zwischen 22 und 5 Uhr erhebliche Einschränkungen im Hinblick auf ihr Mobilitätsverhalten. Autofahren ist in dieser Zeit - mit Ausnahmen - verboten. Spazieren gehen oder Joggen ist noch bis 24 Uhr gestattet. Auch Fahrrad- und Rollerfahren ist zwischen 22 und 0 Uhr erlaubt. Das Argument für nächtliche Ausgangssperren lautet: Ansteckungen passieren vor allem im Privaten. Solche Kontakte und damit die Verbreitung des Virus können durch Ausgangssperren reduziert werden - theoretisch. Auch hier kommen Studien zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen - vom moderaten Einfluss auf das Infektionsgeschehen bis zum Infektionstreiber aufgrund der Tatsache, dass Gäste kurzerhand dort übernachten, wo sie ab 22 Uhr nicht mehr fort können. Nichtsdestotrotz hat sich in zahlreichen Ländern gezeigt, dass die Zahlen der Corona-Neuinfektionen nach der Einführung nächtlicher Ausgangssperren sanken. Das war im ersten Lockdown übrigens auch in Deutschland bundesweit der Fall.
Was passiert bei einer Inzidenz unter 100?
Liegt die 7-Tage-Inzidenz unter 100 Neuinfektionen können die Länder wie bisher selbst über die Maßnahmen entscheiden - gemäß den Beschlüssen der Bund-Länder-Konferenzen. Wenn die Länder bereits strengere Regeln verordnet hatten als in der Bundes-Notbremse festgelegt, gelten weiterhin die Landesverordnungen.
erschienen am 23.04.2021