Köthensdorf. Es ist eine sternenklare, kalte Nacht, als Peter Richter im September 1979 auf einem Beobachtungsturm in der Nähe von Blankenstein im damaligen DDR-Bezirk Gera als NVA-Soldat die innerdeutsche Grenze bewacht. Der schwach leuchtende Punkt, den er gegen 2.30 Uhr in der Ferne am Himmel sieht, lässt ihn 40 Jahre später die Wege eines Mannes erneut kreuzen, dem er damals sicher nicht so sympathisch gegenüber gestanden hätte wie heute. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich am Nachthimmel in 2000 Metern Höhe zwei Familien in einem selbstgebauten Fluggerät, eben jenem leuchtenden Punkt. Günter Wetzel und sein Freund Peter Strelzyk waren in diesem Moment auf ihrem waghalsigen Weg in die Freiheit. Weil ihnen der Weg aus der DDR über die mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen gesicherte Westgrenze als zu riskant erschien, konstruierten und bauten die beiden einen Heißluftballon, mit dem das Abenteuer glückte. Die Flucht erregte Ende der 1970er Jahre weltweit mediales Interesse und schaffte es sogar bis in die Hollywood-Kinos.
Herbstvortrag zum Thema DDR
Heute sind Peter Richter und Günter Wetzel Freunde geworden und erzählen bei Vorträgen gemeinsam und sehr emotional von ihren damals so unterschiedlichen Erlebnissen ein und desselben Ereignisses. So auch am vergangenen Mittwochabend im Haus der Landeskirchlichen Gemeinschaft in Köthensdorf. Der ortsansässige Heimatverein hat zu einem Herbstvortrag geladen, bei dem Wetzel vor mehr als 60 Zuhörern eindrucksvoll über die Gründe und die komplizierten Vorbereitungen seiner Flucht berichtet. Er habe in der DDR zwar eine schöne Kindheit gehabt, aber unter anderem die fehlenden Reisemöglichkeiten hätten seine Einstellung zum Arbeiter- und Bauernstaat grundlegend verändert. Die Übersiedlung seines Vaters nach Westdeutschland bereits Jahre zuvor sei ihm immer wieder zum Vorhalt gemacht worden und Grund genug für die Nichtzulassung zum Studium und zum heiß ersehnten Pilotenschein gewesen, erinnert sich der 67-Jährige. Eine Zeitschrift mit einem Bericht über Heißluftballone, die er von Freunden aus dem Westen erhalten hatte, lieferte schließlich die Idee, einfach über die Grenze hinweg zu fliegen. Für den gelernten Elektriker und passionierten Heimwerker begannen Monate der Materialbeschaffung zur Herstellung einer Ballonhülle. Gemeinsam mit der Familie von Peter Strelzyk reisten Wetzel und seine Frau quer durch die Republik und kauften geeignete Stoffe in Größenordnungen. "Als wir ausreichend Material zusammengetragen hatten, begannen wir mit ersten Tests", sagt Wetzel.
Die Flucht mit dem Heißluftballon
Mit einer Prise Humor berichtet er von mehreren Flugversuchen, die aus heutiger Sicht zwar lustig erscheinen mögen und die angespannte Stille unter den Gästen im Saal auflockert, zum damaligen Zeitpunkt jedoch alles andere als ungefährlich waren und ein jähes Ende hätten nehmen können. "Darüber haben wir uns aber keine Gedanken gemacht. Wir wollten weg, und diesem Ziel haben wir alles untergeordnet", so Wetzel. Nach zwei erfolglosen Versuchen, durch die das Ministerium für Staatssicherheit den Familien bereits näher als angenommen auf der Spur war, gelingt die Flucht schließlich im dritten Anlauf. An jenem 16. September 1979 heben die acht Ballonfahrer von einer Waldlichtung unweit der DDR-Grenze ab, als sie plötzlich Scheinwerfer am Boden sehen. "Woher die kamen, wussten wir nicht. Die Grenze war aus der Luft nicht zu erkennen. Wir waren uns aber sicher, dass man uns entdeckt hatte", schildert Wetzel. Erst vor einigen Jahren konnte er das Rätsel lösen, als sein Telefon klingelte und Peter Richter sich bei ihm meldete. Er hatte damals den Suchscheinwerfer auf einem der Beobachtungstürme bedient und versucht, den Ballon am Himmel zu finden. Die Meldeketten seien in Zeiten ohne moderne Kommunikationsmittel jedoch so langsam gewesen, dass in der Eile nicht schnell genug Entscheidungen getroffen werden konnten und die Grenztruppen den Flüchtlingen nicht mehr habhaft wurden, erzählt Richter. Die insgesamt 32 Minuten dauernde Fahrt reichte aus, dass der Ballon Punkt 3.00 Uhr jenseits der Grenze im oberfränkischen Naila landen konnte. Gespickt mit feinen und interessanten Details, die selbst Historikern, die sich eingehend mit der Thematik befasst haben, unbekannt sein dürften, zeichnet Wetzel in einem zweistündigen, höchst spannenden Vortrag die Geschichte nach, die sein Leben geprägt hat. Den Großteil dieser Erlebnisse hat er auf seiner Internetseite www.ballonflucht.de niedergeschrieben.
Mit seiner Geschichte berühmt geworden
Indes hat es Günter Wetzel zu einiger Berühmtheit gebracht. Im Jahr 2018 erinnerte sich der Schauspieler und Filmregisseur Michael "Bully" Herbig an die US-amerikanische Verfilmung "Mit dem Wind nach Westen" von 1982, die die Geschichte der DDR-Flüchtlinge schon damals erzählte. Herbig entschied sich für eine Neuauflage. "Ballon" sahen sich vor vier Jahren fast eine Million Kinobesucher in Deutschland an. Wetzel, der inzwischen Rentner ist, arbeitet heute als anerkannter Zeitzeuge deutschlandweit mit einer Reihe von Schulbehörden zusammen und erzählt die Erlebnisse seiner spektakulären Flucht vor Schülerinnen und Schülern.
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