Genau vor einhundert Jahren, im November 1922, gelingt dem Engländer Howard Carter die größte archäologische Sensation des 20. Jahrhunderts. Im "Tal der Könige" auf dem Westufer des Nil gegenüber von Luxor, findet er das Grab des altägyptischen Königs Tut-anch-Amun (Lebendes Abbild des Amun). Es ist das 62. Grab, das in der Begräbnisstätte der Könige des Neuen Reiches wiederentdeckt wird. Und es ist das erste, dessen Grabschatz noch weitgehend erhalten ist.
Die Siegel sind intakt
Die Grabungssaison 1922/23 soll für Howard Carter eigentlich die letzte im "Tal der Könige" sein. Mehrere Winter bereits hat der Engländer erfolglos in dem Tal gegraben. Am 27. Oktober 1922 trifft Carter aus England kommend in Luxor ein. Am 1. November beginnen er und seine ägyptischen Arbeiter mit neuen Grabungen im "Tal der Könige". Drei Tage später stoßen sie auf Stufen, die offenbar zu einem Grabeingang führen. Am 5. November notiert Carter in sein Tagebuch "Grab unter dem Grab Ramses VI. entdeckt [.] Selbiges untersucht und Siegel intakt gefunden".
Daraufhin lässt Carter den Zugang wieder zuschütten und informiert Lord Carnarvon, der die Ausgrabungen Carters finanziert, über die Entdeckung. Am 26. November steht Carter vor dem erneut freigelegten Zugang zum Grab. Bei ihm sind nun auch Lord Carnarvon und dessen Tochter Evelyn Herbert. Carter schlägt ein Loch in den Zugang und leuchtet mit einer Kerze in den Raum. Der englische Archäologe erinnert sich später an diesen einzigartigen Moment: "Als meine Augen sich aber an das Licht gewöhnten, tauchten bald Einzelheiten im Innern der Kammer aus dem Nebel auf, seltsame Tiere, Statuen und Gold - überall glänzendes, schimmerndes Gold! Für den Augenblick - den anderen, die neben mir standen, muss es wie eine Ewigkeit erschienen sein - war ich vor Verwunderung stumm. Als Lord Carnarvon die Ungewissheit nicht länger ertragen konnte und ängstlich fragte: 'Können Sie etwas sehen?' war alles, was ich herausbringen konnte: 'Ja, wunderbare Dinge!'"
Ausstattung ist noch vorhanden
Bald wird den Akteuren klar: Hierbei handelt es sich offensichtlich um ein Königsgrab, dessen Ausstattung noch voll und ganz vorhanden ist. Carter schreibt über die Entdeckung des Tut-anch-Amun-Grabes: "Wer zum ersten Male eine solche Stätte betritt, deren Heiligkeit durch die Jahrtausende unverletzt geblieben ist, wird unwillkürlich von Ehrfurcht, wenn nicht sogar von Furcht ergriffen. Es ist beinahe wie eine Entweihung, wenn man den langen Frieden stört und die ewige Stille bricht. Selbst der gefühlsroheste Mensch muss beim Übertreten der unbeschrittenen Schwelle ein Gefühl ehrfürchtigen Schauers empfinden, das aus dem geheimnisvollen Schatten jener mächtigen Vergangenheit emporquillt. Die tiefe Stille des Grabes wird gesteigert durch die zahllosen toten Dinge, die Jahrhunderte und Jahrhunderte unberührt dort stehen, wohin sie fromme Hände gestellt hatten, und ein unbeschreibliches Gefühl heiliger Verpflichtung erzwingt ein Zaudern, bevor man einzutreten oder gar etwas anzurühren wagt."
Etwa zehn Jahre lang werden Carter und sein Team damit beschäftigt sein, den Schatz zu sichten, zu bergen und zu konservieren. Denn obwohl das Grab für einen ägyptischen König sehr klein ist, finden sich in den vier Räumen mehr als 5.300 Einzelobjekte. Darunter sind Fundstücke, die heutzutage zu den schönsten und kostbarsten Objektens des Alten Ägypten zählen, wie die goldene Totenmaske Tut-anch-Amuns oder der innerste von drei ineinander geschachtelten Särgen, der die Mumie des Herrschers umschloss, und ebenfalls aus purem Gold gearbeitet ist.
Kanopenschrein ist eines der schönsten Objekte
Auch viele andere Stücke der Grabausstattung vermitteln einen Eindruck von dem großen Können der damaligen Handwerker und Künstler. In dem Grab finden sich zahlreiche Kultgegenstände, Herrscherinsignien, Amulette, Waffen und Statuen des Königs. Bilder auf Möbelstücken geben Einblicke in das Leben des Herrschers. Eines zeigt Tut-anch-Amun, wie er in ungezwungener Haltung auf seinem Thron sitzt. Vor ihm steht seine junge Frau Anches-en-Amun. In ihrer linken Hand hält sie ein Salbgefäß. Mit ihrer rechten Hand richtet sie den Kragen des Königs oder betupft ihn mit Parfüm. Nicht weniger intim ist das Bild, das das Paar in einer üppig blühenden Landschaft zeigt. Die Königin trägt einen Halskragen und Ohrschmuck. In ihrem dunklen Haar funkeln Juwelen. Unter dem durchsichtigen Stoff ihres fußlangen plissierten Kleides schimmert der makellos schlanke Körper der jungen Frau. In den Händen hält die Königin ein großes Blumengesteck, das sie ihrem Mann reicht.
Eines der schönsten Objekte ist der Kanopenschrein, der in dem als "Schatzkammer" bezeichneten Raum des Grabes steht. Später erinnert sich Carter an den ersten Anblick: "Dem Eingang gegenüber, an der anderen Seite, stand das schönste Denkmal, das ich jemals gesehen habe - so wunderbar schön, dass man vor Staunen und Bewunderung den Atem anhielt! In der Mitte dieses Denkmals stand ein großer schreinartiger Kasten, der ganz und gar mit Gold überzogen und oben von einer Hohlkehle aus Uräusschlangen abgeschlossen war. Ihn umgaben freistehende Standbilder der vier Schutzgöttinnen der Toten, anmutige Gestalten mit schützend ausgebreiteten Armen, so natürlich und lebendig in ihrer Haltung, so voll Mitgefühl und Erbarmen im Ausdruck ihrer Gesichter, dass man das Anschauen fast als Entweihung empfand. Jede dieser Schutzgöttinnen schützte den Schrein an einer Seite. Während aber zwei ihren Blick fest auf das ihrer Obhut Anvertraute gerichtet hielten, war den anderen beiden ein Ausdruck ergreifender Natürlichkeit verliehen. Sie schauten, ihre Köpfe zur Seite wendend, über die Schultern nach dem Eingang, als ob sie gegen eine Überraschung wachsam sein müssten. Es liegt eine schlichte Größe über diesem Denkmal, und ich schäme mich nicht, einzugestehen, dass es mir unmöglich war, auch nur ein Wort herauszubringen. Ohne Zweifel ist es der Schrein, der die Kanopen enthält, die Krüge, die eine so wichtige Rolle bei den Einbalsamierungsgebräuchen spielen."
Mehr Repräsentant als Gestalter
So prächtig der Grabschatz ist, so unbedeutend war der König. "Soweit unsere Kenntnisse heute reichen, können wir mit Gewissheit sagen, dass das einzige Bemerkenswerte in seinem Leben darin bestand, dass er starb und begraben wurde", notiert Carter knapp. Tatsache ist: Der in heutiger Zeit vielleicht berühmteste König des Alten Ägypten war Herrscher in einer Übergangszeit. Tut-anch-Amun, der schon als Kind auf den Herrscherthron gelangte und als etwa 19-jähriger junger Mann starb, war kein Gestalter, sondern eher Repräsentant einer Restaurationszeit, in der das Land zu seinem alten Glauben zurückfand.
In den Jahren zuvor hatte eine religiöse Revolution Ägypten erschüttert. Unter Amenophis IV., der sich später Echnaton nannte, war es zu einem bis dahin nicht für möglich gehaltenen Konflikt gekommen: Echnaton lässt die mächtigen Tempel des Reichsgottes Amun schließen und unterdrückt auch die anderen Götterkulte. Der König kennt nur noch einen Gott, den Sonnengott Aton, den er als Vater anspricht. Echnaton verlässt Theben und gründet in Mittelägypten die neue Hauptstadt Achet-Aton - Horizont des Aton. Echnatons Religion, die erstmals in der Weltgeschichte an den späteren Siegeszug des Monotheismus denken lässt, hat im Alten Ägypten jedoch keine Zukunft. Als der König nach nicht einmal zwanzig Regierungsjahren stirbt, stirbt bald auch der von ihm propagierte neue Glaube. Sein Nachfolger Semenchkare regiert nur kurze Zeit. Bald gelangt Tut-anch-Amun auf dem Thron, der zu Beginn seiner Herrschaft noch Tut-anch-Aton heißt. Die eigentlichen Herrscher im Land sind jedoch der betagte Hofbeamte Eje und der Oberbefehlshaber des Heeres Haremhab - zwei Männer, die nach Tut-anch-Amuns Tod nacheinander auf den ägyptischen Thron gelangen.
Tut-anch-Amun wird zu Sinnbild der nationalen Unabhängigkeit
Der Fund Howard Carters lässt eine neue umfassende Ägyptenbegeisterung in Europa auflodern. Lord Carnarvon, der die Ausgrabung finanzierte, ist es jedoch nicht vergönnt, die größten Schätze des Grabes noch mit eigenen Augen zu sehen. Er stirbt kurz nach der Öffnung des Grabes am 5. April 1923 im Alter von 56 Jahren unerwartet in Kairo - an einer Blutvergiftung infolge eines Mückenstichs. Schnell macht das Gerücht von einem "Fluch des Pharao" in der sensationslüsternen Presse die Runde, und heizt das "Ägypten-Fieber" in Europa noch weiter an.
Für die Ägypter selbst wird Tut-anch-Amun indes ein Sinnbild der nationalen Unabhängigkeit. 1922 endet die offizielle Protektoratsherrschaft Großbritanniens über Ägypten. Entgegen bisherigen Gepflogenheiten, wo bei archäologischen Funden eine Teilung zwischen den europäischen Ausgräbern und Ägypten erfolgte - auf diese Weise ist beispielsweise auch im Jahr 1912 die berühmte Büste der Nofretete, der Großen Königlichen Gemahlin Echnatons, nach Berlin gelangt -, dringt die ägyptische Regierung nun darauf, dass der gesamte Grabschatz in Ägypten verbleibt und in das Museum in Kairo kommt.
Anfang des Jahres 1933 nimmt der Fotograf Harry Burton, der mit zirka 3000 hervorragenden Aufnahmen die Bergung des Tut-anch-Amun-Schatzes dokumentierte, mit Hilfe von Carter eine letzte Fotoserie im Grab auf. Diese setzt den endgültigen Schlusspunkt unter Carters Arbeit an dem Tut-anch-Amun-Grab.
Howard Carter stirbt am 2. März 1939 in London. Er wurde 64 Jahren alt.
Lesenswert
Howard Carter und das Grab des Tutanchamun. Geschichte einer Entdeckung. Herausgegeben vom Griffith Institute. Darmstadt 2022
Thomas Beckh · Gregor Neunert. Die Entdeckung Ägyptens. Die Geschichte der Ägyptologie in Porträts. Darmstadt 2014
Howard Carter. Das Grab des Tut-ench-Amun. Wiesbaden 1981