Chemnitz. Immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen können der Menschheit heute noch von den Grauen des Zweiten Weltkriegs berichten. Darum stellt das Projekt LediZ (Lernen mit Digitalen Zeugnissen) auf seiner Website neue digitale Medienformate bereit, die auch in Zukunft das Gespräch mit Holocaust-Überlebenden ermöglichen. Wissenschaftlerinnen der TU Chemnitz und der LMU München entwickelten beispielsweise einen Chatbot, der auch im Schulunterricht eingesetzt werden kann.
Chatbots als Zeitzeugen
Es fühlt sich beinahe an wie eine Videokonferenz: Über Mikrofon oder Texteingabe auf dem Handy oder Computer kann man Abba Naor, Eva Umlauf und Zilli Schmidt, die als Juden und Jüdinnen oder Sinti und Roma verfolgt wurden, eigene Fragen stellen und bekommt mittels Sprachverarbeitung Antworten. Als Basis dient Filmmaterial, das bereits im Jahr 2018 in England gedreht wurde. Geleitet wird das Projekt von Anja Ballis, Inhaberin des Lehrstuhls Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur sowie Deutsch als Zweitsprache an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bislang war die Kommunikation mit dem Chatbot lediglich auf Deutsch möglich. Doch ein Team der Professur Englische und Digitale Sprachwissenschaft an der TU Chemnitz hat die Videointerviews von Abba Naor nun englisch untertitelt und mit einer eigenen Chatbot-Zugriffsstruktur versehen. Das Online-Tool schlägt auch mögliche Fragen vor - etwa zu Abba Naors Familie oder seinen Erfahrungen im Konzentrationslager.
Emotionale Schilderung
"Wir finden Abba Naors Erinnerungen so wichtig, dass wir sie mit der ganzen Welt teilen möchten. Darum haben wir sie auf Englisch übersetzt", so Christina Sanchez-Stockhammer, Inhaberin der Professur. "Dank der Untertitel können viel mehr Menschen seine Botschaft verstehen. Gleichzeitig vermittelt Abba Naors Stimme direkt seine Emotionen." Ziel war es, Abba Naors Antworten so originalgetreu wie möglich zu übertragen. "Darum erscheinen die Untertitel genau dann, wenn Abba Naor spricht. So kann man sich besser auf seine Körpersprache konzentrieren, wenn er etwa nach Worten sucht", erläutert Mitarbeiterin Antonia Friebel, die ihre Dissertation im Rahmen des Projekts schreibt.
"Gräueltaten nicht vergessen"
Damit das interaktive digitale Zeugnis ganz einfach im englischsprachigen Geschichtsunterricht und im Englischunterricht an Schulen und Universitäten eingesetzt werden kann, haben die Wissenschaftlerinnen eine Handreichung mit Unterrichtsvorschlägen für Lehrkräfte geschrieben und ein Erklärvideo erstellt. Sanchez-Stockhammer hofft: "Indem wir Schülerinnen und Schüler im individuellen Dialog an Abba Naors Geschichte heranführen, möchten wir einen Beitrag dazu leisten, dass die Gräueltaten des Holocausts nicht vergessen werden."
Überlebender hält Erinnerung wach
Abba Naor wurde 1928 in Litauen geboren. Mit 13 Jahren kam er zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden Brüdern in das Ghetto in Kaunas, wo sein älterer Bruder erschossen wurde. Die Familie wurde in das Konzentrationslager Stutthof deportiert, wo Abba seine Mutter zum letzten Mal sah. In verschiedenen Außenlagern des KZ-Dachau musste er schwerste Zwangsarbeit leisten. Im Frühjahr 1945 wurde er auf einen Todesmarsch geschickt. Nach der Befreiung durch die US-Armee traf er seinen Vater wieder und emigrierte nach Israel, wo er für den Geheimdienst arbeitete. Seit den 1990er Jahren unterstützt Naor Initiativen für weitere Mahnmale an der Strecke des Todesmarsches. Seit 2001 ist er Vertreter der ehemaligen Landsberg-Häftlinge im Vorstand des internationalen Dachau-Komitees und seit 2017 dessen Vizepräsident. Die Erinnerung an den Holocaust hält er wach durch die Mitarbeit in der Stiftung Bayerische Gedenkstätten; dem Stiftungsrat gehört er seit 2015 als ordentliches Mitglied an. Als Zeitzeuge setzt er sich an Schulen und Universitäten gegen das Vergessen der NS-Verbrechen ein.
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