An Oliver Masucci denken viele in Deutschland als erstes, wenn es um die Besetzung extremer Charaktere geht: Der 55-Jährige spielte Adolf Hitler ("Er ist wieder da"), Rainer Werner Fassbinder ("Enfant Terrible") oder - sehr gruselig - den Hamburger "Säurefassmörder" in "German Crime Story: Gefesselt". Im ARD-Zweiteiler "Herrhausen - Herr des Geldes" (Dienstag, 1. Oktober, 20.15 Uhr; Donnerstag, 3. Oktober, 21.45 Uhr) darf er nun einen fast schon mythischen Manager verkörpern, der 1989 bei einem Attentat ums Leben kam: Alfred Herrhausen, Chef der Deutschen Bank. Herrhausen war der Rockstar unter den Bankern seiner Zeit. Er ahnte voraus, was andere erst viel später kommen sahen, und er beschritt neue Wege, die sein gesamtes Umfeld verblüfften. Bis heute wird der Mord an Alfred Herrhausen der RAF zugeschrieben, doch die Täter wurden niemals ermittelt. Im Gespräch erzählt Oliver Masucci, warum ihn Herrhausen so fasziniert - und wer ihn tatsächlich ermordet haben könnte.

teleschau: Am Anfang der Filme erscheint die Einblendung "Nach einer wahren Geschichte. Soweit Geschichte wahr sein kann." Wie verstehen Sie den Satz?

Oliver Masucci: Wir befinden uns mit unserer Erzählung im Bereich der Geheimdienste und Sicherheitsapparate. Da gibt es viele Quellen, die teilweise nicht mal genannt werden dürfen. Oder die zumindest nicht wollen, dass man sie nennt.

teleschau: Aber steckt in jenem Satz nicht auch der Hinweis drin, dass man beim Geschichtenerzählen auch immer selbst eine Wahrheit konstruiert?

Masucci: Auf jeden Fall. Der Erzähler hat seine eigene Sicht auf den Stoff, damit fängt es schon mal an. Außerdem wollen Filme oder Serien, die etwas Historisches erzählen, diese Geschichte auch ins Heute ziehen. Denn wir erzählen historische Ereignisse immer mit dem Wissen von heute. Vielleicht auch mit der Idee im Hinterkopf, wie sich diese Ereignisse im Heute spiegeln. Wenn eine Geschichte damit rein gar nichts zu tun hätte, bräuchte man sie ja nicht erst erzählen.

"Der Stoff ist gut geeignet, sich darin zu verlieren"

teleschau: Der Mord an Alfred Herrhausen ereignete sich 1989. Er ist bis heute nicht aufgeklärt ...

Masucci: Ein weiterer Faktor, der den Spielraum beim Geschichtenerzählen erhöht. Was die Serie tut: Sie sammelt Fakten aus jener Zeit, in der Herrhausen ermordet wurde, und stellt sie nebeneinander. Daraus ergibt sich ein Bild. Dieses Bild zu deuten, das kann gerne jeder selbst tun.

teleschau: Zum Tod von Herrhausen gibt es viele Theorien und ebenso viel Material. Haben Sie sich das alles reingezogen - in der Vorbereitung auf die Rolle?

Masucci: Ich fokussiere mich, und dann setze ich vieles, was ich im Alltag erlebe, in Bezug zu dieser Rolle.

teleschau: Das heißt, Sie haben nicht aktiv nachrecherchiert?

Masucci: Nein, das heißt es nicht. Aber ich war selektiv. Ich wusste vier Jahre lang, dass die Rolle kommen würde. Wenn ich mir diese ganze Zeit über Schriften und Theorien zum Herrhausen-Mord reingezogen hätte, hätte ich mir wahrscheinlich eine Psychose eingefangen. Der Stoff ist gut geeignet, sich darin zu verlieren. Die vier, fünf Monate Drehzeit waren dann auch sehr intensiv.

"Herrhausen war in vielerlei Hinsicht visionär"

teleschau: Die Serie zeigt Herrhausen als engen Freund und Berater Helmut Kohls. Er galt als der wohl wichtigste westdeutsche Wirtschaftsvertreter jener Zeit. Haben wir seine Rolle im Wendeprozess bisher unterschätzt?

Masucci: Ich glaube generell, dass wir große Persönlichkeiten unterschätzen - gerade in Deutschland. Wir haben ein Problem damit, diese Menschen zu benennen und zu würdigen. Der Einfluss von Herrhausen auf die damalige Politik war jedenfalls enorm. Wir zeigen ihn nicht nur als Freund Helmut Kohls, sondern auch als Rivalen. Jemand, der teils andere Dinge anstrebte, andere Wege gehen mochte. Kohl hatte auch Angst, glaube ich, gegen Herrhausen den Kürzeren zu ziehen. Die Deutsche Bank war damals immerhin eine der größten und mächtigsten der Welt.

teleschau: Herrhausen bleibt auch in Erinnerung, weil er damals einen Schuldenerlass für die so genannte Dritte Welt vorgeschlagen hat. Mit dem Vorschlag beginnt die Serie sogar.

Masucci: Das stimmt. Herrhausens Vorschlag war visionär, er machte sich damit aber viele zum Feind. Gerade bei den amerikanischen Banken, die anders als die Deutsche Bank viel Geld im südamerikanischen Markt investiert hatten. Die Amerikaner hätten viel Geld und Einfluss verloren, wenn die Idee von Herrhausen damals umgesetzt worden wäre. Andere Geldgeber gerieten durch seinen Vorschlag in Panik, auch in Deutschland. Insofern gab es viele Personen und Organisationen, die ein Interesse daran hatten, ihn loszuwerden.

teleschau: Der Schuldenerlass ist später tatsächlich gekommen ...

Masucci: Ja, das ist er. Aber zu der Zeit, als Herrhausen ihn vorgeschlagen hatte, war die Idee noch ein rotes Tuch. Herrhausen war in vielerlei Hinsicht visionär. Er brachte Frauen in Führungspositionen. Er dachte bereits an die Digitalisierung. Und er sah den Bankrott des Ostens voraus, als ihn sich viele Banker noch nicht vorstellen konnten. Im Prinzip ist unsere Serie ein Ausschnitt aus einer größeren Erzählung über den Fall der Mauer und dem, was davor und danach geschah.

"Figuren wie er fehlen uns heute"

teleschau: Wie groß war der Anteil von Herrhausen an der deutschen Wiedervereinigung?

Masucci: Größer als viele denken. Herrhausen wusste aus den Akten, die er von den Russen erhalten hatte - da ging es um einen großen Kredit der Deutschen Bank - wie schlecht es um die sowjetische Wirtschaft bestellt war. Ihm war auch klar, dass die DDR finanziell stark von der Sowjetunion abhing. Insofern hat er Kohl sicherlich ins Ohr geflüstert, dass der Westen gute Chancen haben würde, die DDR zu übernehmen, wenn man so will.

teleschau: Herrhausen war ein großer Strippenzieher, weil er nicht nur die Politik, sondern auch die Bilanzen kannte?

Masucci: Er war ausgezeichnet vernetzt, sowohl in der Politik, bei den Banken und anderen Industrie-Playern. Das Beste an Herrhausen war jedoch, dass es ihm nicht nur ums Geld ging, sondern auch um seine gesellschaftliche Verantwortung. Er wollte etwas bewirken. Figuren wie er fehlen uns heute. Nicht nur, aber gerade auch in der Wirtschaft.

teleschau: Die Wirtschaftskapitäne von heute sind Ihnen zu unpolitisch?

Masucci: Ja. Nicht im Sinne von Parteipolitik. Aber kaum einer will sich in die Nesseln setzen oder anecken. Es könnte ja dem Geschäft schaden, wenn man Kritik übt. Alle wollen ihre Zielgruppe so groß wie möglich halten, das sagt das Management-Regelbuch. Haltung ist unwirtschaftlich, es sei denn, man sagt das, was möglichst viele sagen. Auch deshalb sticht Elon Musk mit seinen teils extremen Positionen so hervor - weil andere ihm den Raum lassen.

"Dass es die RAF allein war, ist unwahrscheinlich"

teleschau: Gibt es heute weniger starke, visionäre Führungskräfte als früher?

Masucci: Die Politik hatte schon früher das Problem, auf die nächste Wahl fixiert zu sein. Aber ich glaube, es gab damals mehr Menschen, die über die eigene Legislaturperiode, vielleicht sogar über den eigenen Tod hinaus gedacht haben. Da hatte das Wort Vermächtnis noch eine größere Bedeutung. Und die Wirtschaftsführer? Sie dienen den Aktionären, dem Shareholder Value - was auch ihr Job ist. Aber dabei vergessen sie oft ihre gesellschaftliche Aufgabe, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen. Innovativ zu sein. Die meisten wollen keine Veränderung, auch wenn sie etwas anderes behaupten. Dagegen treffen Menschen, die wirklich etwas verändern wollen, fast immer auf heftigen Widerstand.

teleschau: War Herrhausen für Sie ein Held?

Masucci: Er war vieles. Ein visionärer Wirtschaftsführer und Gesellschaftsversteher. Dazu ein außergewöhnlich kluger Kopf - das sagen alle, die ihn kannten. Er wollte soziale Verantwortung übernehmen und war gleichzeitig ziemlich eitel. Herrhausen wusste um seine Fähigkeiten. Gleichzeitig handelte er selbstlos. Er verfügte aus freien Stücken, dass im Falle seiner Entführung auf keinerlei Lösegeld oder sonstige Forderungen eingegangen werden sollte. Er war bereit, seinen eigenen Tod in Kauf zu nehmen.

teleschau: Haben Sie selbst eine Vermutung, wer Herrhausen ermordet hat?

Masucci: Dass es die RAF allein war, ist unwahrscheinlich. Weil sie technisch gar nicht in der Lage war, den Anschlag in dieser Form durchzuführen. Wer letztendlich wen dafür eingespannt hat - man kann es sich zusammenreimen oder es lassen. Mehrere Parteien hatten großes Interesse an seinem Tod. Eine Bombe, wie sie Herrhausen umbrachte, hat acht Tage zuvor den libanesischen Präsidenten René Moawad getötet. Die Spur dieser Bombe führt in den Libanon, darüber gibt es sogar eine Dokumentation.

teleschau: Sie haben in den letzten Jahren viele berühmte Figuren der Zeitgeschichte gespielt, Männer, die Geschichte schrieben. Was haben Sie speziell in der Beschäftigung mit Alfred Herrhausen gelernt?

Masucci: Dass es auch konservative Rebellen gibt. Herrhausen hat mal gesagt: "Wir müssen das, was wir denken, sagen. Wir müssen das, was wir sagen, tun. Wir müssen das, was wir tun, dann auch sein." Ich glaube, davon könnten heute viele Menschen lernen.

(In der ARD-Mediathek steht "Herrhausen - Herr des Geldes" bereits ab 30.September als vierteilige Miniserie zur Verfügung.)