Von Las Vegas bis nach Chicago in einer großen Schleife durch die USA. ZDF-Korrespondent Elmar Theveßen fuhr mit seinem Kollegen David Sauer 9.000 Kilometer mit dem Wohnmobil durch Amerika. Kurz vor der Präsidentschaftswahl wollten sie herausfinden, wie Menschen in 18 Bundesstaaten, darunter die sieben "Swing States", denken und fühlen. Im Film "auslandsjournal - die doku: Zwischen Trump und Harris" (Mittwoch, 23. Oktober, 22.15 Uhr, ZDF), der den Untertitel "Roadtrip durch ein zerrissenes Amerika" trägt, ist nun zu sehen, wie es den Journalisten auf ihrer USA-Reise erging. Im Interview verrät Elmar Theveßen, wie er die Chancen der Kandidaten einschätzt, warum Trump so vielen Leuten in Amerika gefällt und was er nach einer Entscheidung gegen ihn befürchtet.
teleschau: Sie sind für den Film mit dem Wohnmobil 9.000 Kilometer durch 18 US-Bundesstaaten gereist. Haben Sie eine große Erkenntnis mitgenommen?
Elmar Theveßen: Ja, drei Erkenntnisse sogar. Zum einen, dass die Wirtschaft für die meisten Amerikaner das wichtigste ist. Die Leute merken die Inflation im Alltag sehr deutlich, das besorgt sie. Die meisten glauben, dass Trump mehr Wirtschaftskompetenz als Harris besitzt. Eigentlich geht es der US-Wirtschaft gegenwärtig gut, und die Menschen merken das auch. Aber unter Trump, glauben sie, ginge es ihnen noch besser.
teleschau: Was sind die beiden anderen Erkenntnisse?
Theveßen: Zum einen, dass sich die Lügen festgesetzt haben. Dass Trump die Wahl gestohlen wurde und ähnliche Narrative, sind für Trump-Wähler Fakten. Auch Trumps Horrorgeschichten über Zuwanderer werden geglaubt. Der dritte Punkt ist die Sorge vor Gewalt, die alle umtreibt. Nach der Wahlentscheidung - vor allem, wenn sie für Harris ausgehen sollte - fürchten sich viele vor Unruhen.
"Die gewaltige Enttäuschung ist der Grund für Trumps Aufstieg"
teleschau: Lassen Sie uns über Lügen sprechen. Manche Menschen Europa denken, nur dumme Menschen wählen Trump und glauben ihm. Ist das so?
Theveßen: Nein, das wäre zu einfach. Es spielt schon eine Rolle, dass das Bildungsniveau in einigen Landstrichen so niedrig ist, dass die Menschen anfälliger für Trumps Geschichten sind. Hinzu kommt das Phänomen, dass es in vielen Landstrichen keine klassischen Medien mehr gibt. Die Leute hocken in ihrer Blase und konsumieren nur sehr selektiv Soziale Medien, über die man sich gegenseitig bestätigt. Es gibt jedoch auch gebildete und intelligente Menschen, die Trump wählen. Sie glauben, dass er derjenige ist, der ihre Themen besser umsetzen kann. Es sind Leute, die wissen, dass es keinen Wahlbetrug gab und dass Trump lügt. Doch sie wägen ab und halten ihn dennoch für den besseren Mann. Natürlich gibt es auch viele, die ihn unterstützen, weil sie sich selbst einen Vorteil oder einen guten Posten erhoffen.
teleschau: Haben jene Menschen, die Trump durchschauen, ihn aber dennoch unterstützen, keine Angst vor einem Ende der Demokratie in den USA?
Theveßen: Ich glaube, sie verstehen, dass Trump ein ziemlich autoritäres System errichten könnte, aber ein anderes Gefühl in ihnen ist noch stärker: Sie sind enttäuscht von der Politik, die im alten System gemacht wurde und auch von den Anführern vergangener Zeiten. Weil sie sehen, dass ihre Anliegen von denen nicht aufgenommen und umgesetzt wurden. Die gewaltige Enttäuschung ist der Grund für Trumps Aufstieg. Diese Leute sagen sich: Wenn da jemand ist, der mit starker Hand Dinge regelt und Macht projiziert, auch, weil er mit autoritären Methoden vorgeht - vielleicht kann der ja doch etwas erreichen. Jedenfalls mehr als das, was man in der etwas unübersichtlichen, manchmal chaotischen Demokratie bekommt.
teleschau: Wird diese Theorie durch Umfragen bestätigt?
Theveßen: Von Ipsos gibt es eine Umfrage, die belegt, dass sich 65 Prozent der Amerikaner einen starken Anführer wünschen. In Deutschland sind es nur 38 Prozent, an denen man aber sieht: Das Phänomen gibt es auch bei uns. Je mehr man sich ärgert über Dinge, die vermeintlich nicht funktionieren, desto mehr wünscht man sich eine starke Hand, die endlich Ordnung schafft.
"Sie wollten alles, nur keinen neuen König in Amerika installieren"
teleschau: Ein starker Anführer könnte man auch innerhalb des demokratischen Systems sein, oder?
Theveßen: Grundsätzlich ja, aber - wenn wir in Amerika bleiben - viele halten wenig vom Kongress. Es herrscht viel Verachtung für die politischen Instanzen, die Parlamente. Deshalb wünschen sich viele, ein starker Mann im Weißen Haus sollte alle Macht haben. Und der Kongress müsste dann das tun, was dieser Präsident will. Weil man sonst nicht weiter kommt. Manche sagen sogar, dass die Gründungsväter der Verfassung schon immer diesen starken Präsidenten wollten. Dies ist aber eine Fehlinterpretation der amerikanischen Verfassung. Eigentlich ist es ein sehr gutes System von "Checks and Balances", also Gewaltenteilung. Die Gründer der US-Verfassung waren ja gerade den englischen König losgeworden. Sie wollten alles, nur keinen neuen König in Amerika installieren.
teleschau: Nun hört man, dass die Wahlentscheidung wohl in nur sieben Swing States fällt. Kann man wirklich sicher sein, dass alle anderen Staaten bereits in ihrer Entscheidung fix sind?
Theveßen: Die anderen Staaten sind relativ sicher vergeben, aber es gibt einige wenige, da könnte eventuell etwas passieren. Virginia, hier vor meiner Haustür in Washington, ist ein Staat, der relativ sicher am Ende blau, also demokratisch wählen wird. Doch es ist nicht ausgeschlossen, wenn das demokratische Lager nicht ausreichend Wähler mobilisieren kann, dass Trump hier trotzdem einen Sieg einfährt. Es gibt auch Staaten, die eher in das rote, also republikanische Lager gerechnet werden, wo es knapper als angenommen werden könnte. In Texas oder Florida beispielsweise, also großen Staaten. Dort ist es nicht auszuschließen, dass es mal in Richtung Demokraten kippen könnte, auch aufgrund des Bevölkerungswandels. Viele Experten glauben, dass es jetzt noch nicht passieren wird. Aber vielleicht in naher Zukunft.
teleschau: Also arbeitet die Zeit gegen Trump und für die Demokraten?
Theveßen: Statistisch, demografisch ja - aber das spielt jetzt erst mal keine Rolle. Deshalb konzentrieren sich Harris und Trump eben auf diese sieben Swing States. Insgesamt hat man hier ein großes Problem mit der Wählermobilisierung. Ich wage mal die Prognose, dass Harris keine 81 Millionen Stimmen bekommt wie Biden 2020, sondern deutlich weniger. Für Trump gilt das Gleiche. Auch für ihn werden es deutlich weniger als die 75 Millionen vom letzten Mal sein.
"Auch ganz andere Faktoren wie das Wetter sind wichtig"
teleschau: Es gibt immer neue Wasserstandsmeldungen zu den Swing States. Was glauben sie, wer in welche Richtung kippt?
Theveßen: Das ist wirklich ganz schwer zu sagen. Die meisten Umfragen kann man in der Pfeife rauchen. Sie beruhen auf der Basis von 600 bis 1.500 Befragten. Bei 155 Millionen registrierten Wählern. Die Basis für gesicherte Aussagen ist viel zu klein. Die Institute haben ihre Systematik auch nicht groß verändert, seit sie damals bei Hillary Clinton extrem falsch gelegen haben. Die Umfragen von Pew Research sind seltener, aber deutlich valider. Sie stützen sich auf 6.000 bis 9.000 Befragte, die repräsentativ ausgewählt wurden.
teleschau: Und was sieht man bei denen?
Theveßen: Dass Harris einen Vorsprung hat, aber der ist sehr knapp. Gerade in den Swing States. Interessant wird es, wenn man das Kleingedruckte liest und schaut, wie die Verteilung der Stimmen bei bestimmten Gruppen aussieht. Da sieht man, dass Harris bei Frauen, Latinos, Schwarzen und auch bei jungen Leuten einen enormen Vorsprung hat. Der ist momentan schon recht eindrucksvoll. Doch all das spielt keine Rolle, weil die Entscheidung in den knappen Swing States fällt. Dort könnte entscheidend sein, wie viele Leute am 5. November tatsächlich zur Wahl gehen.
teleschau: Wovon ist es abhängig, ob man am Wahltag auch wirklich wählen geht?
Theveßen: Da spielen ganz unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Natürlich die Frage, ob einen die Politik und die Kandidaten erreicht haben. Aber auch ganz andere Faktoren wie das Wetter sind wichtig. Gerade hatten wir das Problem mit den Hurricanes. Sie haben auch die Briefwahl massiv gefährdet und eingeschränkt. Die Umschläge kommen nicht zu den Leuten. Dann weiß man nicht, ob die Infrastruktur am Boden liegt oder das Wetter am 5. November ebenfalls kritisch ist. Es sind Faktoren, die von massiver Bedeutung sind, aber in keiner Umfrage erfasst werden können.
"Ja, es muss Gewalt geben, wenn sie Trump die Wahl wieder stehlen"
teleschau: Lassen Sie uns noch mal über Ihre Reise durch 15 Bundesstaaten reden. Lernt man im Gespräch mit den Menschen vor Ort etwas anderes als das, was man bei der Beschäftigung mit dem großen Ganzen erfährt?
Theveßen: Ja. Man erfährt, wie das, was die Kandidaten sagen, tatsächlich bei den Menschen ankommt. Nur ein Beispiel: Trump bezeichnet Harris als Kommunistin. Die Demokraten versuchen hingegen, ihre Pläne als - ich würde sagen - sozialdemokratisches Programm zu vermitteln. Es ist erschreckend, wenn man vor Ort feststellt, dass das Verständnis für die Unterschiede zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie weitgehend fehlt. Da sind wir wieder beim Thema Bildung und der Abwesenheit unabhängiger Medien, die Aussagen der Politiker einordnen. In vielen Regionen gibt es keine lokalen Medien mehr. Es ist eine Katastrophe, weil diese Nachrichtenwüsten guter Nährboden für Desinformation jeglicher Art sind.
teleschau: Wie gehen Nachbarn unterschiedlicher Meinung miteinander um?
Theveßen: Auch das ist ein schwieriges Thema. Die Leute sind unerbittlich, man kommt kaum noch miteinander ins Gespräch. Auf beiden Seiten wird das andere Lager verteufelt. Das führt dazu, dass man das Dunkelste vom Nachbarn denkt, von dem man weiß, dass er die andere Seite unterstützt. Oft ist es so, dass man innerhalb eines kleinen Ortes nicht mehr über politische Themen sprechen kann oder will. Was aber nicht heißt, dass man dem Nachbarn kein Gerät leihen würde oder man sich gegenseitig nicht hilft, wenn ein Sturm oder eine andere schwierige Situation eintritt. Die Nachbarschaftshilfe funktioniert in Amerika nach wie vor - wenn man die Politik rauslässt.
teleschau: Haben Sie Angst vor Unruhen oder bürgerkriegsartigen Zuständen nach der Wahl?
Theveßen: Die Menschen haben Angst davor. Das haben wir überall im Land erlebt, die Leute machen sich Sorgen. Einige sagen ganz direkt: Ja, es muss Gewalt geben, wenn sie Trump die Wahl wieder stehlen. Andere sind sich sicher, dass alles ruhig bleiben wird. Wir hatten auf der Reise schon das Gefühl, dass die Bereitschaft zur Gewalt vorhanden ist. Ich glaube nicht, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen kann, wie man es fiktiv im Spielfilm "Civil War" sehen konnte. Doch Unruhen, Übergriffe, Pogrome - das könnte passieren, wenn Kandidaten, und da sehe ich vor allem Trump, Öl ins Feuer gießen.
"Ich glaube, Harris hat eine ernsthafte Chance, die Wahl zu gewinnen"
teleschau: Wie verbringen Sie die Wahlnacht, und haben Sie ein Gefühl, wie die Wahl ausgeht?
Theveßen: Ich verbringe die Nacht auf dem Dach des Hotels "The Hay-Adams" gegenüber des Weißen Hauses. Dort haben wir unser Live-Studio, von dem aus wir über die Wahl berichten. Ich werde in dieser Nacht wahrscheinlich keinen oder nur sehr wenig Schlaf finden. Die Live-Sendung kommt aus Berlin, aber Antje Pieper und ich werden immer wieder von dieser Dachterrasse zugeschaltet. Ich glaube, Harris hat eine ernsthafte Chance, die Wahl zu gewinnen. Aber es wird so knapp, dass es wirklich in jede Richtung ausgehen kann. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden wir es in der Wahlnacht noch nicht wissen, wer Präsident wird. Es könnte wieder Tage oder sogar Wochen dauern, bis das Ergebnis feststeht.
teleschau: Woran liegt das?
Theveßen: In einigen Bundesstaaten gab es seit dem letzten Mal, wo es vier Tage dauerte, bis die Entscheidung stand, noch mal eine Schwächung der Wahlgesetze. Einige Wahlaufsichten wurden von Trump-Leuten übernommen, zum Beispiel in Georgia. Dort könnte es sein, dass sich der Auszählungsprozess verzögert. Ich bin mir sicher, dass die Auszählung auch dieses Mal wieder angezweifelt und infrage gestellt wird, sollte Trump hinten liegen.