Alleine die Zahlen sind beeindruckend: Udo Jürgens hat über 1.000 Lieder geschrieben, über 50 Alben veröffentlicht, mehr als 100 Millionen Tonträger verkauft. Aber was den stets mit staatsmännisch-seriösem Äußeren öffentlich auftretenden Musiker noch mehr zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Künstler machte, waren seine Art und seine Haltung. Am 30. September wäre der große Chansonnier Udo Jürgens 90 Jahre alt geworden. Er verstarb am 21. Dezember 2014.
Udo Jürgens war ein Denker, aber ohne aufgesetzte Intellektualität. Er trug edle Anzüge, hatte aber keine Aura des Abgehobenen; er war ein Star und doch stets ganz nah beim Volk. Vielleicht war er in der Unterhaltungskultur der 60er-, 70er- und 80er-Jahre die wichtigste Stimme der aufstrebenden bundesdeutschen Mittelschicht. Und als solche hielt er sich an seine Liedtexte.
Beim österreichischen Sänger und Komponisten galt seit so vielen Jahren: Es ist noch lange nicht Schluss - auch wenn er die 66 längst überschritten hatte. Wie sich allerdings andere Senioren im Alter verhalten, das ging ihm gewaltig gegen den Strich. Ausgerechnet dem Zielgruppenfachblatt "Senioren Ratgeber" eröffnete Jürgens im Herbst seiner Karriere, wie sehr er sich an den "Bürgerlichen, Braven und Angepassten" stört und ihn das "Nach-mir-die-Sintflut-Denken vieler Älterer" aufrege. "Ich will unbedingt noch 'erwachsen' werden", sagte der Österreicher da zu seinen Zielen, das aber "sicher nicht gemütlich und angepasst".
Mehr als der Womanizer im Bademantel
So war er, der Mann, der den massenwirksamen deutschen Nachkriegschanson erfand. Er führte ihn an die Grenzen des Schlagers heran und war stets auch ein bisschen Rock'n'Roll am gläsernen Klavier - er ackerte und schwitzte live auf der Bühne, seine Zugaben im weißen Bademantel sind legendär.
Über 100 Millionen Tonträger hat Jürgens verkauft. Nicht nur aus heutiger Sicht ein unglaublicher Erfolg. Zumal der Jazzfan aus großbürgerlichem Elternhaus seine Hits fast alle auf Deutsch sang. Vor seiner letzten Tournee, die trotzig "Mitten im Leben" hieß, redete der Superstar noch im Herbst 2014 ausführlich über die letzten Herausforderungen des Lebens und die Furcht vor dem Ende. "Natürlich stehe ich nicht mitten im Leben, das weiß ich", sagte Udo Jürgens vor Journalisten in Hamburg. "Die Plattenfirma bestand darauf, dass Album und Tour so heißen müssen." Als ein Mann von 80 Jahren ließ er sich eben von den PR-Fuzzis nicht den Mund verbieten. Auch wenn die Industrie das Bild vom rüstigen, immer jungen Kraftmenschen am Klavier, jenen schwitzenden Womanizer im Bademantel auf ewig konservieren wollte, wusste der echte Mann hinter dem Image gut Bescheid, was die Stunde geschlagen hat.
Im elterlichen Schloss aufgewachsen
Tatsächlich war Jürgen Udo Bockelmann, wie er bürgerlich hieß, ein eher schwächliches Kind, das oft krank war. Im elterlichen Schloss wuchs er mit einem älteren und einem jüngeren Bruder auf. Sein Vater, der in Moskau als Sohn eines einflussreichen Bankiers geboren wurde, musste nach einer Inhaftierung infolge des Ersten Weltkriegs zurück nach Deutschland fliehen, wo die Familie Bockelmann ursprünglich auch herkam.
Eine reiche Familiengeschichte, die selbst ohne die Karriere von Udo Jürgens erzählenswert wäre. Jürgens hat sie in dem Familienroman "Der Mann mit dem Fagott" aufgeschrieben, 2011 wurde sie als gleichnamiger ARD-Zweiteiler verfilmt.
Fit hatte er sich über Jahrzehnte im Wasser gehalten. Im Bauch seiner Villa an der Algarve gab es einen Pool von nennenswerter Größe. "Da schwimme ich jeden Tag einige 100 Meter", sagte Jürgens. Gesund gelebt habe er meistens, aber keineswegs immer. "In den 70-ern wurde unglaublich viel getrunken und gefeiert, dem konnte man sich kaum entziehen." Nach zwei gescheiterten Ehen lebte er zuletzt abwechselnd in der Schweiz und in Portugal.
Im November 2013 verriet er, nach seiner letzten Scheidung im Jahr 2006 wieder liiert zu sein. Weitere Auskünfte gab es dazu nicht. Viel lieber sprach er über seine beiden offiziellen Kinder aus der Ehe mit dem Fotomodell Erika "Panja" Meier: John und Jenny. Im ARD-Dokumentarfilm zum 80. des Sängers loben sie den Vater, wenn auch durchscheint, dass er früher nicht oft daheim war. "Wenn ich da war", sagte Udo Jürgens, "dann allerdings zu 100 Prozent".
Auf die kluge Frage an den notorischen Womanizer, ob er in seinem Leben genug geliebt habe, antwortete er entschieden: "Mit Sicherheit nicht. Ich bin zweimal geschieden, das sagt doch eigentlich alles." Offenbar hat Jürgens zwischenmenschliches Scheitern durchaus als Niederlage verbucht, was ihn bei allem Selbstbewusstsein der Superstars sympathisch macht. "Früher dachte ich, dass ständiger Sex Glück bedeutet", bilanzierte er und ergänzte, er wisse "dass das Glück immer ein flüchtiger Vogel bleibt und man sich für vergangenes kurzes Glück später nichts mehr kaufen kann".
Das Schwerste im Leben, sagte Udo Jürgens, sei ohnehin, den Alltag zu bewältigen. Dann beieinander zu bleiben, wenn Zeiten und Gefühle alles andere als rosig sind und die Mühen der Ebene im Leben anstehen. Aus diesen Worten sprach die Angst des exzessiven Bühnenmenschen vor jenem Moment, da die Hotelzimmertür ins Schloss fällt und man alleine ist. Udo Jürgens hatte das, trotz aller Groupies und zweier weiterer unehelicher Kinder, oft erlebt. Er war aber auch sensibel und wach genug, sich an diese Momente zu erinnern.
Ebenso wie an die Tatsache, dass es nicht normal war, mit 80 noch ein solches Pensum wie er zu schaffen. Noch bis Ende März 2015 hätte seine "Mitten im Leben"-Tour dauern sollen. Er füllte bis zuletzt die größten Hallen. "Wenn du ein Abschiedslied, ein richtig gutes machst", sagte er in der ARD-Dokumentation von Hanns-Bruno Kammertöns und Michael Wech, "muss man den Tod durchhören durch das Lied". Derzeit könne er keine Abschiedslieder spielen, das ginge ihm zu nahe, gab Udo Jürgens zu. "Das Alter ist vor allem eine Aufgabe", bilanzierte der Superstar.
Große ARD-Show im Winter
In einer Talkshow erinnerten sich John (60) und Jenny Jürgens (57) unlängst in liebevollen Worten an ihren Vater. Auf die Frage, was sich Udo Jürgens von seinen Kindern zu seinem 90. Geburtstag gewünscht hätte, antwortete der Sohn: "Eine kleine feine familiäre Runde, in einem kleinen feinen Lokal seiner Wahl."
Die großen Gesten waren nicht die Sache des "privaten" Udo Jürgens. Das Fernsehen legt noch in diesem Jahr aber natürlich doch noch mal eine große Show zu Ehren des Künstlers auf. "Udo Jürgens Forever" ist anlässlich des Todestages des Stars im Vorweihnachtsprogramm zu finden. Die Show, moderiert von Michelle Hunziker und Sasha, wird am Mittwoch, 20. November, in München aufgezeichnet und am Montag, 23. Dezember, 20.15 Uhr, im Ersten gezeigt. Direkt im Anschluss um 22.30 Uhr zeichnet die neue Dokumentation "UDO!" von David Kunac und Sebastian Dehnhardt den Lebensweg von Udo Jürgens mit exklusiven Interviews und bisher unbekannten Perspektiven nach. Bereits jetzt sind die Sendungen "Merci, Udo - Songs für die Ewigkeit von Udo Jürgens" und "Aber bitte mit Sahne: Legendäre Hits von Udo Jürgens" in der ARDMediathek zu finden. Mit dabei sind alle Hits, unter anderem "Ich war noch niemals in New York", "Liebe ohne Leiden", "Ich weiß, was ich will", "Merci Chérie", "Mit 66 Jahren", "Immer wieder geht die Sonne auf", "Griechischer Wein" und viele andere.
Ab Ende Oktober ist zudem Pepe Lienhard mit seinem Orchester auf Tour, um an seinen Freund und Weggefährten Udo Jürgens zu erinnern. "Da Capo Udo Jürgens" versteht sich als musikalisches Best Of mit einer ungewöhnlichen Umsetzung. Die Originalaufnahmen der letzten Udo-Jürgens-Konzerte wurden zu diesem Zweck digital aufgearbeitet. Zusammen mit dem Live-Orchester entsteht ein besonderes Konzertereignis, bei dem Zuschauerinnen und Zuschauer Udo Jürgens auf einer großen LED-Wand verfolgen können. Dazu spielen Pepe Lienhard und seine Musiker. Lienhard begleitete Udo Jürgens mehr als 30 Jahre lang mit seiner Big Band.